Ein Fußball-Revolutionär wie aus dem Bilderbuch
Ich war einige Tage bei der Champions Trophy der Hockey-Männer in Auckland. Während dieser Zeit ist Sócrates gestorben, der ehemalige brasilianische Fußball-Star, nur 57 Jahre alt. Die Nachricht hat mich betroffen gemacht, aber nicht überrascht, denn ich habe mich vor zehn Jahren während eines einmonatigen Sprachkurses in São Paulo mit Sócrates getroffen. So großartig, unterhaltsam und kurzweilig der Tag auch war, eine Frage, die ich mir hinterher stellte, war, wie lange ein Mann, der ein Bier nach dem anderen in sich hineinschüttet und eine Zigarette nach der anderen qualmt, seinen selbstgewählten Lebensstil überleben kann.
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Marcelo hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox, Sócrates rief zurück, obwohl er weder von Marcelo noch von mir jemals gehört hatte. Ein paar Tage später trafen wir uns - im Zeitalter der Manager, Berater und Informations- verhinderer, die jeden noch so kleinen Fußballstar umschwirren - in einer Churrascaría zu einem mehrstündigen Gespräch. Er fand meine Fragen erfrischend, so anders als in üblichen Interviews. Ich fand es beeindruckend, wieviel Bier er trinken konnte, ohne umzufallen. Sein Zigarettenkonsum hatte seine Stimme angeraut. Er lachte dröhend und strahlte eine ansteckende Fröhlichkeit aus.
Er hatte große Pläne, die er nicht alle in die Tat umsetzte. Andererseits nahm er Projekte in Angriff, die er damals noch gar nicht erwähnte. Er nahm eine Gesangs-CD auf, nicht wirklich hörenswert. Er komponierte ein Musical. Er war ein Mann mit so vielen Talenten. Einer, der wusste, was er tat, aber er starb wie einer, der nicht wusste, was er tat...
Hier eine der Geschichten, die ich damals über unser Treffen und Sócrates' Leben geschrieben habe. Erscheinungsdatum 25. März 2001.
Der Superdünne, ein Kerl wie ein Bär
Zu seinen aktiven Zeiten politisierte er Zico, kämpfte für die Rechte der Profis - und spielte elegant und bisweilen genial Fußball. Heute sieht Sócrates fast aus wie Che Guevara und übernimmt immer noch Verantwortung. Er will sogar für den Posten als Präsident des brasilianischen Verbandes kandidieren.
Auf der Mail seines Handys meldet sich noch immer "O Magrão", der Superdünne. So ist Sócrates, bei der WM 1982 und 1986 Kapitän der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft, aller Welt in Erinnerung geblieben. Ein klapperdürrer langer Lulatsch von 1,91 Metern mit schulterlangen Locken und wildem Vollbart, der trotz seiner Größe so geschmeidig mit dem Ball zauberte, als baumle das Leder an unsichtbaren Schnüren.
![]() Wer eine Weile mit ihm zusammen ist, weiß, warum. Sócrates liebt frisch gezapftes Bier, eins ums andere zischt er runter. Und qualmt wie ein Schlot. Natürlich feiert er gerne, braucht dazu keinen Carnaval Brasil.
Um eine gesunde Lebensweise hat er sich schon zu seiner aktiven Zeit als torgefährlicher Mittelfeld-Star (60 Länderspiele, 22 Tore) nicht geschert. "Das ganze Leben ist eine Party", sagt er mit seiner angerauchten rauen Stimme und lacht dröhnend los.
Irgendwie sieht er aus wie Che Guevara. Es fehlt nur die olivfarbene Uniform, und die würde locker in seinen Kleiderschrank passen. "Ich besitze nur eine Krawatte", beteuert er, "und die habe ich schon viermal getragen." Das gehört sich so bei den Studienabschlussfeiern, den "formaturas" in Brasilien, die vier seiner fünf Söhne aus erster Ehe schon hinter sich haben.
Wenn sich Sócrates in ein feines Hemd quälen muss, krempelt er die Ärmel hoch. Das war auch Ende Februar so, als er im brasilianischen Parlament zur Abschaffung der Ablösesummen und der Umwandlung der Vereine in Wirtschaftsbetriebe gehört wurde; das Gesetz, das einst Zico als Sportminister entwarf und von Pelé vorangetrieben wurde, tritt morgen in Kraft - gegen den Widerstand der Klubchefs.
![]() Der Fußball-Millionär ist Mitglied der Arbeiterpartei, und als er 1984 zum AC Florenz wechselte, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als in die kommunistische Partei Italiens einzutreten. Von 1993 an war er zwei Jahre lang Sportsekretär in seiner Heimatstadt Ribeirão Preto, wo übrigens auch der (ehemalige) Stuttgarter VfB-Profi Marcelo Bordon herkommt. Auch in São Paulo, wo er seit kurzem lebt, wurde ihm dieses Amt schon angeboten.
Jetzt hat er vor, Ende 2002 fürs Präsidentenamt des undurchsichtigen nationalen Fußball-Verbandes zu kandidieren - "nicht wegen der Macht und auch nicht unbedingt, um zu gewinnen, sondern um Bewegung in die Sache zu bringen". Dazu muss ihn allerdings ein Regionalverband nominieren - und das ist gar nicht so einfach, schließlich mischt Sócrates alles und jeden auf, wenn er Unrecht auch nur wittert.
![]() Die politischen Tätigkeiten waren für das Multitalent die Schule für sein künftiges Leben. Ein siebenmonatiger Trainerjob beim Zweitliga-Klub Cabo Frio, wo er "Mädchen für alles und nebenbei auch noch Trainer" war und dessen Team er in die erste Liga führte, zählte ebenfalls zu den praktischen Erfahrungen, die er für seine neuen Ziele gut gebrauchen kann.
![]() Sócrates gilt zwar als Akademikerkind, aber in seinen ersten Lebensjahren im Nordosten des riesigen Landes, in Belém, lebte seine Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen. Es ging erst aufwärts, als sein Vater Raimundo, Steuerbeamter mit niedriger Schulbildung, der sich mit fanatischem Eifer fortbildete und alle Philosophen las, in einem landesweiten Wettbewerb einen von 30 hoch dotierten Posten erhielt. "Mein Vater hatte plötzlich ein Rieseneinkommen, er verdiente mehr als der damalige Staatspräsident", erzählt Sócrates, "aber abgehoben ist er deswegen nicht. Im Gegenteil."
Vor allem Sócrates als Erstgeborener von sechs Söhnen bekam die Bildungssucht des mittlerweile 77-jährigen Vaters zu spüren: "Er hat mich zum Lesen genötigt, und er hat überwacht, dass ich gelernt habe."
Der Name ist das Eine, was ihm seine Eltern mit auf den Weg gegeben haben, der Respekt für die Armen das Andere. "In einem Land wie Brasilien mit diesen verrückten Unterschieden haben nicht viele Menschen die gleichen Möglichkeiten wie ich, etwas zu verändern", sagt Sócrates. "Ich hatte Glück, deshalb muss ich helfen. Deshalb ist es ein Vergnügen für mich, Verantwortung zu übernehmen." Wie ein Revolutionär eben. Das ist normal für einen, der so sehr aus dem Rahmen fällt.
Copyright: Sissi Stein-Abel
| ![]() Sócrates im Februar 2001 in São Paulo.
Ja, ich hatte zwischendurch wirklich mal kurze Haare...
![]() Bier, Zigaretten...
![]() Marcelo nutzte die Gelegenheit, um sein Dutzend Fußball-Bücher signieren zu lassen.
Er hatte das Interview für mich arrangiert wie ein professioneller Manager. Keine Sekretärin hat jemals bessere Arbeit für mich geleistet, und vor allem jetzt als freiberufliche Journalistin, die mit Verwaltungs- und Organisationskram die Hälfte ihrer Zeit verplempert, wäre ein Assistent wie Marcelo Gold wert. Leider wohnt er zu weit entfernt... |