06.12. Adeus Sócrates

Ein Fußball-Revolutionär wie aus dem Bilderbuch

Ich war einige Tage bei der Champions Trophy der Hockey-Männer in Auckland. Während dieser Zeit ist Sócrates gestorben, der ehemalige brasilianische Fußball-Star, nur 57 Jahre alt. Die Nachricht hat mich betroffen gemacht, aber nicht überrascht, denn ich habe mich vor zehn Jahren während eines einmonatigen Sprachkurses in São Paulo mit Sócrates getroffen. So großartig, unterhaltsam und kurzweilig der Tag auch war, eine Frage, die ich mir hinterher stellte, war, wie lange ein Mann, der ein Bier nach dem anderen in sich hineinschüttet und eine Zigarette nach der anderen qualmt, seinen selbstgewählten Lebensstil überleben kann.

Ein Riese ist Sócrates, mittlerweile 47 Jahre alt, natürlich noch immer. Aber der Mann, der in verwaschenen Jeans, blauem Poloshirt und Joggingschuhen in einer Churrascaria in São Paulo zum Interview erscheint, ist ein Kerl wie ein Bär. Breite Schultern, voluminöser Brustkorb. Das Leben hat ein bisschen aufgetragen seit dem letzten Spiel 1989, ohne dass der Ex-Profi jetzt dick wäre. Schön ist er nicht, aber durchaus hinreißend, ungekünstelt und uneitel. Der Vollbart ist angegraut, das dunkle Haar streichholzkurz. Seine Aknenarben hatte er schon in jungen Jahren, aber die Gesichtszüge wirken jetzt leicht verlebt.

Wer eine Weile mit ihm zusammen ist, weiß, warum. Sócrates liebt frisch gezapftes Bier, eins ums andere zischt er runter. Und qualmt wie ein Schlot. Natürlich feiert er gerne, braucht dazu keinen Carnaval Brasil.

Um eine gesunde Lebensweise hat er sich schon zu seiner aktiven Zeit als torgefährlicher Mittelfeld-Star (60 Länderspiele, 22 Tore) nicht geschert. "Das ganze Leben ist eine Party", sagt er mit seiner angerauchten rauen Stimme und lacht dröhnend los.

Irgendwie sieht er aus wie Che Guevara. Es fehlt nur die olivfarbene Uniform, und die würde locker in seinen Kleiderschrank passen. "Ich besitze nur eine Krawatte", beteuert er, "und die habe ich schon viermal getragen." Das gehört sich so bei den Studienabschlussfeiern, den "formaturas" in Brasilien, die vier seiner fünf Söhne aus erster Ehe schon hinter sich haben.

Wenn sich Sócrates in ein feines Hemd quälen muss, krempelt er die Ärmel hoch. Das war auch Ende Februar so, als er im brasilianischen Parlament zur Abschaffung der Ablösesummen und der Umwandlung der Vereine in Wirtschaftsbetriebe gehört wurde; das Gesetz, das einst Zico als Sportminister entwarf und von Pelé vorangetrieben wurde, tritt morgen in Kraft - gegen den Widerstand der Klubchefs.

So außergewöhnlich der angegraute Sócrates war, so unkompliziert war die Kontaktaufnahme mit ihm. Ich dachte, ich würde eine Zeitungsredaktion anrufen und um Amtshilfe bitten. Nein, sagte Marcelo, einer meiner brasilianischen Freunde, er kenne jemanden, der jemanden kennt... Auf diese Weise bekam er die Telefonnummer von Raí, Sócrates' Bruder, und da der gerade in Italien oder wo auch immer war, geriet er an wieder jemand anderen, der ihm Sócrates' Nummer gab.

Marcelo hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox, Sócrates rief zurück, obwohl er weder von Marcelo noch von mir jemals gehört hatte. Ein paar Tage später trafen wir uns - im Zeitalter der Manager, Berater und Informations- verhinderer, die jeden noch so kleinen Fußballstar umschwirren - in einer Churrascaría zu einem mehrstündigen Gespräch. Er fand meine Fragen erfrischend, so anders als in üblichen Interviews. Ich fand es beeindruckend, wieviel Bier er trinken konnte, ohne umzufallen. Sein Zigarettenkonsum hatte seine Stimme angeraut. Er lachte dröhend und strahlte eine ansteckende Fröhlichkeit aus.

Er hatte große Pläne, die er nicht alle in die Tat umsetzte. Andererseits nahm er Projekte in Angriff, die er damals noch gar nicht erwähnte. Er nahm eine Gesangs-CD auf, nicht wirklich hörenswert. Er komponierte ein Musical. Er war ein Mann mit so vielen Talenten. Einer, der wusste, was er tat, aber er starb wie einer, der nicht wusste, was er tat...

Hier eine der Geschichten, die ich damals über unser Treffen und Sócrates' Leben geschrieben habe. Erscheinungsdatum 25. März 2001.

Der Superdünne, ein Kerl wie ein Bär

Zu seinen aktiven Zeiten politisierte er Zico, kämpfte für die Rechte der Profis - und spielte elegant und bisweilen genial Fußball. Heute sieht Sócrates fast aus wie Che Guevara und übernimmt immer noch Verantwortung. Er will sogar für den Posten als Präsident des brasilianischen Verbandes kandidieren.

Auf der Mail seines Handys meldet sich noch immer "O Magrão", der Superdünne. So ist Sócrates, bei der WM 1982 und 1986 Kapitän der brasilianischen Fußball-Nationalmannschaft, aller Welt in Erinnerung geblieben. Ein klapperdürrer langer Lulatsch von 1,91 Metern mit schulterlangen Locken und wildem Vollbart, der trotz seiner Größe so geschmeidig mit dem Ball zauberte, als baumle das Leder an unsichtbaren Schnüren.

Nebenbei promovierte er zum Arzt, rief bei seinem damaligen Verein Corinthians São Paulo die Revolution aus und wich auch sonst total vom Klischee des brasilianischen Straßenkickers ab, der dank seines Talents den Favelas, den Slums der Großstädte, entrinnt und Weltruhm erlangt.

Bier, Zigaretten...

Sócrates im Februar 2001 in São Paulo.

Ja, ich hatte zwischendurch wirklich mal kurze Haare...

Sócrates ist ein Revolutionär wie aus dem Bilderbuch. Außen und innen. Und er ist fast zwölf Jahre nach dem Ende seiner Karriere omnipräsent im Land des viermaligen Weltmeisters. Dreimal wöchentlich veröffentlicht die Sporttageszeitung "A Gazeta Esportiva" seine Kolumnen, er schreibt für die Internet-Homepage der Corinthians, für die er von 1978 bis 1984 spielte, beackert seine eigene Homepage, nimmt Stellung zu ethischen und moralischen Fragen des Sports - und wird von den Medien gefragt, weil er nie um eine ehrliche/kritische/provokative Antwort verlegen ist. Ein total politischer Mensch eben, der nicht bloß redet, sondern auch Verantwortung übernimmt.

Der Fußball-Millionär ist Mitglied der Arbeiterpartei, und als er 1984 zum AC Florenz wechselte, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als in die kommunistische Partei Italiens einzutreten. Von 1993 an war er zwei Jahre lang Sportsekretär in seiner Heimatstadt Ribeirão Preto, wo übrigens auch der (ehemalige) Stuttgarter VfB-Profi Marcelo Bordon herkommt. Auch in São Paulo, wo er seit kurzem lebt, wurde ihm dieses Amt schon angeboten.

Jetzt hat er vor, Ende 2002 fürs Präsidentenamt des undurchsichtigen nationalen Fußball-Verbandes zu kandidieren - "nicht wegen der Macht und auch nicht unbedingt, um zu gewinnen, sondern um Bewegung in die Sache zu bringen". Dazu muss ihn allerdings ein Regionalverband nominieren - und das ist gar nicht so einfach, schließlich mischt Sócrates alles und jeden auf, wenn er Unrecht auch nur wittert.

... und am anderen Ende der Leistung ist Wladimir, Sócrates' ehemaliger Fußball-Kollege.

Marcelo nutzte die Gelegenheit, um sein Dutzend Fußball-Bücher signieren zu lassen.

Er hatte das Interview für mich arrangiert wie ein professioneller Manager. Keine Sekretärin hat jemals bessere Arbeit für mich geleistet, und vor allem jetzt als freiberufliche Journalistin, die mit Verwaltungs- und Organisationskram die Hälfte ihrer Zeit verplempert, wäre ein Assistent wie Marcelo Gold wert. Leider wohnt er zu weit entfernt...

So war er schon zu seiner aktiven Fußballer-Zeit, als er die "Democracia Corintiana" ausrief. Auch in der Nationalmannschaft leistete er politische Überzeugungsarbeit. "Als ich Zico 1979 kennenlernte, war er total unpolitisch, aber ich habe ihn angesteckt", erzählt er stolz. Sein Klub trat Anfang der achtziger Jahre - bis auf Torhüter Leão, den jetzigen Nationalcoach - mit Stirnbändern an, auf denen die Forderung nach mehr Demokratie prangte.

Die politischen Tätigkeiten waren für das Multitalent die Schule für sein künftiges Leben. Ein siebenmonatiger Trainerjob beim Zweitliga-Klub Cabo Frio, wo er "Mädchen für alles und nebenbei auch noch Trainer" war und dessen Team er in die erste Liga führte, zählte ebenfalls zu den praktischen Erfahrungen, die er für seine neuen Ziele gut gebrauchen kann.

Sócrates ist mit seiner zweiten Ehefrau Adriana, einer Zahnärztin, in den Moloch São Paulo gekommen, um Management zu studieren. Ihm schwebt ein Amt als Manager oder Klubpräsident bei Botafogo oder Ribeirão Preto vor. Nebenbei engagiert er sich in der Hilfsorganisation "Gol de Letra", die sein jüngster Bruder Raí (u.a. Paris St. Germain) zusammen mit seinem Fußball-Kollegen Leandro gegründet hat.

Bis vor "ungefähr" zweieinhalb Jahren praktizierte er in Ribeirão Preto als Sportmediziner. Jetzt, sagt er, praktiziert er "trabalho light" - die gemütliche Art der Arbeit. Den genauen Zeitpunkt seines Abschieds aus der Arztpraxis hat er ebenso wenig parat wie den Gegner seines letzten Spiels. "Was vorbei ist, ist vorbei", sagt er, "ich lebe für den Augenblick. Was jetzt geschieht, ist wichtig." Und jetzt bimmelt das Handy, Wladimir, sein ehemaliger Mannschaftskamerad, ist dran. "Der Fußball war und ist die größte Bereicherung meines Lebens", sagt er, "ich habe dabei alle Typen von Menschen kennengelernt, er hat mir unglaubliche Perspektiven eröffnet." Dieses Privilegs ist sich der Millionär in Joggingschuhen immer bewusst.

Sócrates gilt zwar als Akademikerkind, aber in seinen ersten Lebensjahren im Nordosten des riesigen Landes, in Belém, lebte seine Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen. Es ging erst aufwärts, als sein Vater Raimundo, Steuerbeamter mit niedriger Schulbildung, der sich mit fanatischem Eifer fortbildete und alle Philosophen las, in einem landesweiten Wettbewerb einen von 30 hoch dotierten Posten erhielt. "Mein Vater hatte plötzlich ein Rieseneinkommen, er verdiente mehr als der damalige Staatspräsident", erzählt Sócrates, "aber abgehoben ist er deswegen nicht. Im Gegenteil."

Vor allem Sócrates als Erstgeborener von sechs Söhnen bekam die Bildungssucht des mittlerweile 77-jährigen Vaters zu spüren: "Er hat mich zum Lesen genötigt, und er hat überwacht, dass ich gelernt habe."

Die Brüder wurden entsprechend getauft: Nach Sócrates kamen Sóstenes und Sófocles. Dann riss die Reihe ab, keiner weiß, warum; es folgten Raimundo, Raimar und Raí. Sein voller Name ist Sócrates Brasileiro Sampaio de Souza Vieira de Oliveiro. "Der Albtraum meines Lebens war, als ich ein Grundstück in Ribeirão Preto kaufte und 50 Formulare unterschreiben musste", erzählt er und schüttelt sich vor Lachen.

Der Name ist das Eine, was ihm seine Eltern mit auf den Weg gegeben haben, der Respekt für die Armen das Andere. "In einem Land wie Brasilien mit diesen verrückten Unterschieden haben nicht viele Menschen die gleichen Möglichkeiten wie ich, etwas zu verändern", sagt Sócrates. "Ich hatte Glück, deshalb muss ich helfen. Deshalb ist es ein Vergnügen für mich, Verantwortung zu übernehmen." Wie ein Revolutionär eben. Das ist normal für einen, der so sehr aus dem Rahmen fällt.

Copyright: Sissi Stein-Abel