19.03. Achtung Vorfahrt!

Anpassung an den Rest der Welt - mit einer Ausnahme

Kiwis – die Menschen in Neuseeland, nicht die Vögel - sind Gewohnheitstiere der besonders halsstarrigen Art. Die meisten verabschieden sich nur äußerst widerwillig von eingefahrenen Traditionen. Deshalb ist es bemerkenswert, wenn sich eine Mehrheit findet, die einer Neuerung zustimmt.

62 Prozent befürworten laut einer Umfrage des nationalen Automobilklubs AA die Einführung einer neuen Vorfahrtsregelung, die freilich gar nicht so neu ist. Die Änderung, die am Sonntagfrüh um 5 Uhr (Ortszeit) in Kraft tritt, ist die Rückkehr zum Alten, das bis 1977 Gültigkeit hatte.

Klar ist jedoch: Der Rückschritt ist Fortschritt, denn nach 35 Jahren verwirrender Situationen an Kreuzungen wird in dem Inselstaat im Südpazifik endlich wieder so gefahren wie im Rest der Welt. Ein Sieg des gesunden Menschenverstands, jubeln die einen – und das schließt sämtliche Einwanderer und Touristen ein. Das Ende der Höflichkeit, jammern die anderen.

Es geht um das Vorfahrtsrecht beim Rechtsabbiegen – was dem Linksabbiegen in Deutschland entspricht, weil in Neuseeland Linksverkehr herrscht. Wer künftig als Rechtsabbieger die Fahrspur(en) des Gegenverkehrs kreuzt, muss dem Linksabbieger, der an der Bordsteinkante entlang um die Kurve fährt, die Vorfahrt gewähren.

Bislang ist’s so, dass der Linksabbieger nicht bloß auf Fußgänger und Radfahrer acht geben, sondern auch mit sämtlichen Rück- und Außenspiegeln den Verkehr hinter sich beobachten muss. Fährt nämlich hinter ihm ein Fahrzeug geradeaus, darf der entgegen kommende Rechtsabbieger natürlich nicht Gas geben, denn der Geradeausverkehr hat Vorfahrt.

Ist der Rechtsabbieger blöd und vorsichtig?

In der Praxis sieht es so aus, dass der Linksabbieger anhält, weil er den Rechtsabbieger durchlassen muss, und diesen dann verflucht, weil er nicht losfährt. Der vermeintliche Depp hat entweder geradeaus fahrenden Gegenverkehr erspäht oder ist einer von jährlich zwei Millionen Touristen oder ein Einwanderer, der die unsinnige Regel zwar kennt, sie aber einfach nicht in Fleisch in Blut hat. Das dauert Jahre.

Erzwingt der Linksabbieger die Vorfahrt, die ihm in allen anderen Ländern der Welt zustünde, oder steuert er einen Lastwagen oder Omnibus, der nachfolgende Fahrzeuge verdeckt, kommt’s unweigerlich zu einem der jährlich rund 2500 Zusammenstöße, für die das Verkehrsministerium und der AA die unlogische Abbiegeregelung verantwortlich machen. 22 Millionen NZ-Dollar (13,7 Mio. Euro) kostet das. Im Schnitt sind ein bis zwei Tote und 173 Verletzte zu beklagen.

Im Optimalfall – bezüglich der Gesundheit und des Überlebens - kommt’s an der Kreuzung zum Verkehrsstillstand, weil jeder die Regelkenntnis des anderen anzweifelt. Ähnliche Wartezeiten sind auch nach der Umstellung zu erwarten, weil jetzt natürlich erst recht keiner dem anderen traut. Die Versicherungen rechnen jedoch erst einmal mit einem Anstieg der Unfallzahlen und nach der Eingewöhnungsphase einen Rückgang um acht bis zehn Prozent.

Um den Leuten die neuen Regeln einzutrichtern, sollten 1,73 Millionen Haushalte Broschüren erhalten. (Wir gehörten nicht dazu...) Zu der zwei Millionen NZ-Dollar (1,2 Mio. Euro) teuren Aufklärungskampagne gehören auch großflächige Zeitungsanzeigen, Werbespots im Fernsehen und Radio sowie Online-Tests im Internet.

Arme Schweine im fließenden Verkehr

Der Gedanke hinter der vom nationalen Automobilklub AA jahrelang bekämpften Regeländerung 1977, die Neuseeland einst vom australischen Bundesstaat Victoria abschaute, ist immerhin nachvollziehbar. Es galt als sicherer, wenn ein Fahrzeug links am Straßenrand wartet als in der Straßenmitte im fließenden Verkehr. An Geradeausfahrer und Fußgänger hatte niemand gedacht.

Victoria deckelte die Regelung 1993, weil die anderen Bundesstaaten sich weigerten, ihre Bürger in ähnlicher Weise zu verwirren. Neuseeländer, die für die Beibehaltung der alten Regelung plädieren, beklagen, dass es dann keine Kavaliere am Steuer mehr geben wird. Sie sagen, man brauche Nerven wie Drahtseile* (siehe Text in der rechten Spalte), um das Rechtsabbiegen zu meistern.

Keine Vorfahrt für Ausfahrer

Eine zweite Neuerung, die ebenfalls am Sonntagmorgen greift, bezieht sich auf die Vorfahrt an Einmündungen („T intersections“) ohne Ampel und Verkehrszeichen. Biegt künftig ein Auto von der durchgehenden Straße nach rechts in die einmündende Straße ab, hat es Vorfahrt vor Fahrzeugen, die aus der einmündenden Straße nach rechts abbiegen.

Das bricht die Rechts-vor-links-Regel. Aber in Neuseeland macht es Sinn, denn dort gelten Ausfahrten aus Supermarkt-Parkplätzen, Parkhäusern und Tankstellen als Straßen. Sprich: Wer bislang von einer Vorfahrtsstraße rechts in eine Tankstelle einbiegt, muss dem von dort ausfahrenden Fahrzeugen die Vorfahrt geben. Die Praxis zeigt: Das macht kein normaler Mensch. Deshalb ist die Änderung nur eine Anpassung an die Realität.

Von dem ursprünglichen Plan, die neuen Regeln am 1. April einzuführen, ist das Verkehrsministerium abgerückt. Die Gefahr war zu groß, dass die Neuseeländer das Ganze für einen Aprilscherz gehalten hätten.

Nerven wie Drahtseile

* Ich denke, man braucht Nerven wie Drahtseile, um typisch neuseeländisches Verkehrsverhalten beim Rechtsabbiegen zu ertragen, ganz ohne die Vorfahrtsregel.

Selbst an ampelgesteuerten Kreuzungen biegt oft kein oder nur ein Fahrzeug nach rechts ab, weil die Fahrer wie angewurzelt an der Haltelinie stehen bleiben, anstatt in die Mitte der Kreuzung vorzufahren. Wenn ich im ersten Fahrzeug vorfahre, hält oft das nächste Fahrzeug mit Zehn-Meter-Abstand an der Haltelinie...

Wer's noch nicht weiß: In Neuseeland lernt man Fahren von Mutti, Vati, Oma, Opa oder wem auch immer, der Nerven wie Drahtseile hat. In eine Fahrschule gehen die wenigsten.

So lernt niemand optimales Verkehrsverhalten und Sicherheitsbewusstsein. Die meisten Autos scheinen eingebaute Vorfahrt zu haben, und viele benutzen den Blinker wie Sonderzubehör, für dessen Benutzung Gebühren fällig werden. Der Blick in Rück- und Außenspiegel fällt in dieselbe Kategorie.

Wer an einer Ampel bei Grün zügig losfährt und zu keinem Zeitpunkt das Tempolimit bricht, hat nach hundert Metern fünfzig Meter Vorsprung. Pech, wenn man auf einer vierspurigen Straße nicht in einem der vordersten Fahrzeuge sitzt. Dann muss man nämlich mit 20 km/h das Elefantenrennen vor sich ertragen...

Und dass bloß niemand denkt, ich wäre ein Raser. Ich bin "ticket"-frei, seit ich in Neuseeland lebe.

Update 07. Mai 2012

Vor kurzem wurden die Regeln für die Führerscheinprüfung verschärft. Seither liegt die Durchfallquote bei 60 Prozent (vorher 20 Prozent). Prima!

Kuriosität

Mir ist erst mit jahrelanger Verspätung aufgefallen dass es in Neuseeland keine Vorfahrtsschilder gibt - als ich vorschlug, abknickende Vorfahrt mit einem Schild unter dem (nicht vorhandenen) Vorfahrtsschild besser zu kennzeichnen... ;-)))