11.03. Die Christ Church

Der Dekan, ein Wanderer zwischen den Welten

Von Sissi Stein-Abel

CHRISTCHURCH. Selbst die Bank unter den uralten Eichen ist aus Stein, wie auch die Kirche daneben, erbaut aus grauen Granitblöcken, so wie die eingestürzte anglikanische Kathedrale in der Stadtmitte. Aber St. Barnabas im eleganten Vorort Fendalton steht, und Peter Beck, der Dekan der Kathedrale von Christchurch, die seit dem verheerenden Erdbeben am 22. Februar aussieht wie nach einem Bombenangriff, hat sich auf diese einsame Steinbank gesetzt, um über sein Leben im Exil zu sprechen.

Der oberste Priester der Kathedrale, dem Namensgeber, Wahrzeichen und Herz der zweitgrößten Stadt Neuseelands, ist seit der Naturkatastrophe zum Wanderer zwischen den Welten geworden: zwischen den Pfarreien in unversehrten Vierteln, dem zerstörten Zentrum und den schwer getroffenen ärmeren Vierteln im Osten von Christchurch, wo sich der schwammige Untergrund verflüssigte, Häuser verrutschten, Straßen sich wellten und aufbrachen, Abwasserrohre barsten.

„Das war kein Akt Gottes, sondern des Planeten“, sagt Beck. „Gott ist darin zu sehen, wie die Menschen jetzt zusammenstehen, einander helfen. Diese Unverwüstlichkeit, die die Cantabrians auszeichnet. In den schlimmsten Zeiten zeigen die Menschen ihre wahre Größe. Das kann man jetzt überall beobachten.“

Auch Becks Haus in Richmond, nahe an dem durch die Stadt mäandernden Fluss Avon, hat die Erschütterungen der Erde nicht unbeschadet überstanden, doch es ist bewohnbar. „Wir haben keine Kanalisation, aber das ist kein Problem für uns“, sagt der gebürtige Engländer. „Mit der Zeit gewöhnt man sich daran.“

Trauerfeier mit Prinz William

Peter Beck, Dekan der ChristChurch Cathedral

Eine unveröffentlichte Geschichte

Eine Zeitungsgeschichte vom anderen Ende der Welt muss nicht nur interessant sein und einen aktuellen Bezug haben, sondern auch im richtigen Augenblick geschrieben werden - dann nämlich, wenn im Rest der Welt nicht allzu viel los ist. Das schien mit meiner Geschichte über die vielen zerstörten Kirchen in Christchurch der Fall zu sein. Aber kaum hatte ich sie an "meine" Zeitungen versandt, lasen wir ungläubig die ersten Meldungen vom Seebeben und dem Tsunami in Japan.

Natürlich war damit meine Kirchen-Story gestorben, die ganze Arbeit für die Katz. Lediglich in der Berliner Zeitung erschien ein kürzeres Portrait über den Dekan der Kathedrale in Christchurch in der Rubrik "Mein Wochenende". Diesen Text hatte ich einen Tag früher verfasst; zudem ist diese Kolumne unabhängig von den Tagesereignissen.

Um Missverständnisse von vornherein zu vermeiden: Es geht mir nicht um meine Geschichte; ich wollte lediglich erläutern, wie schwierig es manchmal ist, den richtigen Zeitpunkt für eine Geschichte zu wählen, und dass man machtlos ist, wenn sich die Ereignisse plötzlich überschlagen.

Der 62-jährige Dekan hat – von seiner Aufgabe als Seelsorger abgesehen – derzeit wichtigere Dinge zu tun als über die Befindlichkeiten von sich und seiner Frau Gay nachzudenken. Er bereitet eine Trauerfeier zu Ehren der 80 Toten einer Sprachschule vor, die im eingestürzten Gebäude des lokalen Fernsehsenders CTV gestorben sind, Menschen aus 14 Ländern. Dann ist der große Gedenkgottesdienst am kommenden Freitag im Hagley Park zu organisieren, „zusammen mit der Bischöfin und vielen anderen“.

Die Regierung hat den Tag zum Feiertag für die Region Canterbury erklärt. Prinz William ist einer der Ehrengäste. Im Auftrag der Königin reist der britische Thronfolger an drei Schauplätze am anderen Ende der Welt, die in den vergangenen Monaten Katastrophen erlebten: die australische Flutregion Queensland, die neuseeländische Westküste, wo bei einem Grubenunglück im vergangenen November 29 Kumpel starben, und eben Christchurch, wo die Zahl der Erdbeben-Toten bislang bei 166 steht, aber mit Sicherheit noch steigen wird.

Zwei Wochen lang war die Einsatzleitung nach Auswertung der Informationen von Überlebenden davon überzeugt, dass 16 und 22 Menschen unter den Trümmern des eingestürzten Turms der Kathedrale begraben wären.

Als er nach dem Ende der Suche mitten in der Nacht informiert wurde, dass in seiner Kirche keine Toten gefunden wurde, „heulte ich vor Glück“, sagt Peter Beck. „Ich war darauf vorbereitet, die unter dem Schutt geborgenen Toten zu segnen, und dann war das Gegenteil der Fall. Da ist mir so ein Stein vom Herzen gefallen. Aber ich frage mich natürlich: Wo sind diese Menschen, die noch immer vermisst werden?“

Aus dem Büro in eine riesige Staubwolke hinein

Als das Erdbeben der Stärke 6,3 auf der Richterskala das Zentrum der größten Stadt der Südinsel Neuseelands am 22. Februar um 12.51 Uhr in einen Trümmerhaufen verwandelte, arbeitete der Dekan in seinem Büro, in dem am weitesten vom Turm entfernten Ostflügel der Kathedrale. „Auch dort ist großer Schaden entstanden, aber nichts ist eingestürzt“, erzählt er. „Dann bin durch die Kirche gegangen – und direkt in eine riesige Staubwolke hinein. Ich konnte nichts sehen, ich hörte nur Leute rufen, die sich ins Freie retteten und andere in Sicherheit brachten. Dann sah ich dieses riesige Loch, wo vorher der Turm war.

Es war die Meldung, die auch jenen, die weiter entfernt waren, das Ausmaß der Katastrophe klar machte. Schließlich hatte die Kathedrale das 7,1-Beben im vergangenen September und das Furcht einflößende Nachbeben am zweiten Weihnachtstag (4,9) mit nur minimalen Schäden überstanden. Aber diese Nachricht bedeutete: Kathedrale am Boden, Christchurch am Boden.

Die Stadt heißt wie die Kathedrale, Christ Church, und diese wurde benannt nach der Mutterkirche im englischen Oxford. Dort übrigens wurde der in der Stahlstadt Sheffield geborene Peter Beck 1973 zum Priester geweiht.

Kaum ein Tourist hat in Christchurch nicht die Kathedrale besichtigt oder wenigstens fotografiert. Für die Einheimischen, ob gläubig oder nicht, ist sie Ausdruck für Heimat und Identität. „Sie ist für Menschen aller Religionen und Nationalitäten ein Symbol und wird es bleiben, und sie wird auch wieder das Wahrzeichen unserer Stadt werden, egal, wie sie in Zukunft aussehen wird“, meint der Dekan. „Wir werden alles daran setzen, sie wieder aufzubauen. Aber noch kommt diese Diskussion zu früh. Erst müssen wir die Vermissten finden und die Toten betrauern. Und wenn wir über Bauwerke sprechen, geht es nicht nur um die Kathedrale.“

50 bis 60 Kirchen sind beschädigt oder gar zerstört

Noch gibt es keine genauen Zahlen, aber vermutlich sind zwischen 50 und 60 Kirchen in der Stadt beschädigt oder gar zerstört, darunter allein 26 anglikanische und zehn katholische Kirchen inklusive der großartigen weißen Basilika Blessed Sacrament mit ihren spektakulären Kuppeln. Die presbyterianische Knox-Kirche ist nur noch ein Gerippe.

Die größte Kirche der Baptisten in der Oxford Terrace liegt völlig platt am Boden, ebenso die Methodistische Kirche, die älteste Steinkirche der Stadt, in der Durham Street. Hier starben bei der jüngsten Naturkatastrophe drei Arbeiter, als sie die Orgel ausbauten, um sie vor Schäden durch die unzähligen Nachbeben des September-Rüttlers (mittlerweile 4900) zu schützen.

Es gibt Diskussionen über Reparaturen und die Art des Neuaufbaus. Soll die Kathedrale als Mahn- oder Denkmal stehen bleiben wie die Berliner Gedächtniskirche oder Stein für Stein rekonstruiert werden wie die Dresdner Frauenkirche?

Vom Ansatz her stimmt so mancher dem von der Regierung für Erdbeben-Fragen zuständigen „Wiederherstellungsminister“ Gerry Brownlee zu, dass Häuser aus Ziegelsteinen und graue Granitgebäude wie die Kathedrale als potenzielle Todesfallen auf Schwemmland nichts zu suchen haben.

Aber die Wortwahl und undifferenzierte Betrachtungsweise des als Haudrauf-Politiker bekannten Schwergewichts, der die neogotischen und viktorianischen Prachtbauten als „alte Scheißhäuser“ bezeichnete, die man samt und sonders platt machen müsse, verbitten sich viele Cantabrians. Schließlich haben gerade diese Gebäude der Stadt ihren altenglischen Charme verliehen und Touristen angelockt, insbesondere das Arts Centre (ehemalige Universität) und die Provincial Chambers (Sitz der einstigen Provinzregierung).

Keiner hörte auf die Warnungen des Experten

Im nachhinein wird immer mehr klar, wie wahnwitzig es war, all diese Monumente aus Stein zu errichten. Derzeit macht eine einst wenig beachtete Kurzversion eines Dokumentarfilms die Runde, in dem schon vor 15 Jahren ein Ingenieur darauf hinwies, dass die Listen der denkmalgeschützen und im Falle eines Erdbebens einsturzgefährdeten Gebäude in Christchurch nahezu identisch seien. Der Experte empfahl dringend, die Bauwerke zu stabilisieren sowie Balustraden und Zierrat zu entfernen.

Ein Blick in die Baugeschichte offenbart, dass viele der ersten Kirchen Holzkonstruktionen waren. Später wurden sie aus Prestigegründen durch Steinbauten ersetzt. Auch die anglikanische Kathedrale sollte aus Kostengründen und wegen der Erdbeben-Gefahr aus Holz gebaut werden.

Bald sollte sich zeigen, wie vernünftig die Umsetzung dieses Plans gewesen wäre. Kaum war die Kathedrale geweiht (1881), löste sich beim Erdbeben von Castle Hill – knapp 100 Kilometer entfernt – ein Stein aus der Turmspitze. 1888 stürzte beim Nord-Canterbury-Erdbeben (bei Hanmer Springs, 130 Kilometer weiter im Norden) ein Teil des Turms ab, genauso wie 1901 beim Erdbeben von Cheviot (100 Kilometer nord-östlich).

Auch die Originalkirche von St. Barnabas, wo Peter Beck jetzt sitzt, war aus Holz. Sie wurde 1926 durch den Granitbau mit dem quaderförmigen Turm ersetzt, und sie steht, weil sie sich in der düstersten Stunde der Stadt am richtigen Fleck befand, vier Kilometer nordwestlich der Kathedrale.

Die Kirchengemeinde der Kathedrale war nach dem Erdbeben zwei Sonntage lang Gast der Grundschule in Fendalton und hält seine Gottesdienste ab nächstem Sonntag in der Kapelle des Christ’s College ab. Die Verwaltung wird in den Konferenzraum der renommierten Schule verlegt. „Ich bin überzeugt, dass manche Leute nach zwei Erdbeben am selben Ort eine schwere Glaubenskrise durchmachen, aber viele haben auch große Kraft und Trost im Glauben gefunden“, sagt der Dekan. „Mein Glaube ist nicht erschüttert. Im Gegenteil. Er ist durch diese Ereignisse noch stärker geworden.“

Aber er wird ein Wanderer zwischen den Welten bleiben, zwischen dem Christchurch von gestern, heute und morgen, dem Lachen von gestern, den Tränen von heute und der Hoffnung von morgen.