27.11. WM Rugby League
Aufstand der Kleinen dank straffreiem Länderwechsel
AUCKLAND. Es war ein Menschenmeer in Rot und Weiß, übergewichtige Südsee-Insulaner, trunken vor Glück. Aber von einer zur anderen Sekunde endete der Traum und das Mount-Smart-Stadion in Auckland versank in einem Tränenmeer.
Vermutlich hatte der Schiedsrichter sogar recht, als er dem vermeintlichen Sieges-Versuch (Try) für Tonga im Halbfinale der Rugby-League-Weltmeisterschaft gegen England die Anerkennung verweigerte. Aber dass er, anders als in anderen strittigen Situationen, nicht um Klärung durch den Video-Assistenten bat, zeugte von Arroganz und einer unsportlichen, von einigen Kommentatoren auch als diskriminierend und sogar rassistisch gegeißelten Grundeinstellung des australischen Pfeifenmanns Matt Cecchin.
Solch ein Try – wenn ein Spieler den Ball hinter der Grundlinie des Gegners ablegt – gibt vier Punkte in der Rugby-Sparte Rugby League. England gewann 20:18. Mehr als 57.000 Fans unterzeichneten in null Komma nichts eine Online-Petition, in der ein in Australien lebender Tonganer vom Weltverband Rugby League International Federation (RLIF) eine Untersuchung des „gestohlenen Sieges“ verlangt.
Abgrundtiefe Enttäuschung
Die Enttäuschung war so abgrundtief, weil die wuchtigen Männer aus der kleinen Inselnation die Rugby-Welt aufgemischt und für die Sensation schlechthin bei der in Australien und Neuseeland ausgetragenen Weltmeisterschaft gesorgt hatte: Sie warfen Mitfavorit Neuseeland im Viertelfinale aus dem Wettbewerb. Das entspräche im Fußball einem Triumph der Färöer-Inseln nicht bloß gegen Österreich, sondern gegen Brasilien.
In Rugby League, auch Dreizehner-Rugby genannt, weil ein Team aus dreizehn und nicht aus fünfzehn Spielern wie in der von Neuseelands All Blacks dominierten Variante Rugby Union besteht, gibt es nur drei in die höchste Stufe (Tier 1) eingeteilte Nationen: Neuseeland, England und den zehnmaligen Weltmeister Australien, der am Samstag in Brisbane gegen die Engländer bei der 15. Auflage zum 14. Mal in einem WM-Finale steht. England siegte drei Mal, zuletzt jedoch 1972, Neuseeland (2008) einmal.
Dass jetzt plötzlich die Kleinen aus der zweiten Kategorie (Tier 2) so groß auftrumpften – neben Tonga schaffte es auch Fidschi ins Halbfinale, wo es allerdings eine 6:50-Klatsche gegen Australien setzte -, hatte allerdings auch mit den skurrilen Regeln des Weltverbandes RLIF bezüglich der Auswahlkriterien von Spielern zu tun.
Die Dachorganisation hatte sicherlich die Förderung der armen Inselnationen im Südpazifik im Auge, als sie den Akteuren dieser Länder im vergangenen Jahr erlaubte, zwischen Stufe-1- und Stufe-2-Auswahlteams zu wechseln und selbst ohne (doppelte) Staatsbürgerschaft das Land des Hauptwohnsitzes zu repräsentieren.
Fragwürdige Entwicklungshilfe
Das macht prinzipiell Sinn. Neuseeland und Australien sind Sammelbecken von Einwanderern der ersten und zweiten Generation aus diesen Staaten, fördern die Talente und profitieren sportlich von der Immigration. Nicht jeder schafft es jedoch in die Nationalmannschaften Neuseelands (Kiwis) und Australiens (Kangaroos). Gleichzeitig fehlt den Heimatnationen Masse und Klasse. Indem den überzähligen Spielern ein Wechsel erlaubt wird, können sowohl der Weltverband als auch Australien und Neuseeland Entwicklungshilfe leisten.
Fragwürdig wird das Ganze jedoch, wenn passiert, was vor dieser Weltmeisterschaft passiert ist, weil die RLIF das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel ohne jegliche Wechselsperre unter Punkt 3.4.2 der Regularien bis zu drei Wochen vor dem Eröffnungsspiel oder dem Nominierungsschluss erlaubt. Amüsante Einschränkung unter Punkt 3.6: „Ein Spieler darf während einer laufenden Weltmeisterschaft nicht die Nationalmannschaft wechseln.“
Das wäre praktisch für Andrew Fifita, der diesen nicht anerkannten Try gegen England legte; dann könnte er nämlich am Samstag im Finale wieder für Australien auflaufen, so wie vor der WM.
Wechselwütiges Quartett schwächt die Kiwis
Weniger Glück hätten Jason Taumalolo, Sio Siua Taukalaho, Manu Ma’u und David Fusitu’a, denn sie kehrten exakt drei Wochen vor Turnierbeginn ohne Vorwarnung den Kiwis den Rücken und stürzten die Neuseeländer in Nominierungsnöte. Kurz zuvor hatte Nationaltrainer David Kidwell nämlich seinen Kapitän Jesse Bromwich und Kevin Proctor nach einem Kokain-Skandal gefeuert.
Die Überläufer waren alles andere als Mitläufer. Taumalolo, der die Wechselwelle auslöste, ist der Superstar der Rugby League. Geboren in Auckland, der größten Stadt Neuseelands, spielte der gefürchtete Forward (Stürmer) bei der WM 2013 für Tonga und seit 2014 für die Kiwis, und noch im Juni hielt er zu Werbezwecken die neuseeländische Flagge hoch.
Er dementierte, seine Fahnenflucht sei eine direkte Reaktion auf die Ausbootung des Kokain-Duos gewesen. Stattdessen erklärte der 24-jährige Topspieler: „Die Weltmeisterschaft bietet Entwicklungsländern wie Tonga eine Gelegenheit, auf der großen internationalen Bühne zu spielen, und ich möchte ihnen dabei helfen.“ Warum ihm das nicht ein bisschen früher eingefallen ist, um den Kiwis eine faire Vorbereitung zu ermöglichen, bleibt sein Geheimnis.
Bennett fordert dreijährige Wechselsperre
Diese Wechselwut prangerte Englands Trainer Wayne Bennett, ein 67-jähriger Australier, auch nach dem Halbfinale noch einmal an. „Wenn jemand für eine Mannschaft nicht spielen will, ist das seine Sache“, sagte er, „aber es kann nicht angehen, dass man dann einfach für ein anderes Team spielt. Wenn sie zurück wollen, sollten sie eine dreijährige Wechselsperre absitzen.“
Tongas Trainer Kristian Woolf konterte: „Dann müssten die Stufe-2-Nationen dieselben Teilnahmegebühren erhalten wie England, Australien und Neuseeland und nicht bloß 30 Dollar Tagessatz. Gebt allen dasselbe und dann werden wir sehen, für wen die Leute spielen wollen. So, wie es jetzt ist, bleiben die Stufe-1-Teams stark und die Stufe-2-Nationen chancenlos.“
Jason Taumalolo forderte „angesichts der riesigen Unterstützung, die wir in Neuseeland hatten“, mehr Länderspiele. Trainer Woolf hat bereits einen neuen Klassiker im Sinn: ein jährliches „grudge match“ zwischen den Kiwis und Tonga in Auckland. Ein „Groll-Match“, ein Wut-Duell in der Stadt, in der 50.000 Menschen aus Tonga zu Hause sind.
(Copyright: Sissi Stein-Abel)