24.02. Im Sperrgebiet

Die heile Welt neben dem Horror

Iris Cross ist weder besonders jung noch athletisch. Aber zäh ist sie. Spaten für Spaten schaufelt sie den klebrigen, gummiartigen grauen Schlamm in die Schubkarre. Jedesmal wenn der Wagen halb voll ist, schiebt sie ihn durch den langen Zufahrtsweg vom Haus ihrer Freunde Glenys und Fred Key zur Straße vor und schüttet die Ladung auf einen stetig anwachsenden Hügel.

„Das Zeug ist so schwer, mehr kann ich nicht heben“, sagt die in rosa T-Shirt und lila Trainingshose gekleidete Schottin, die seit 38 Jahren in Neuseeland lebt. Vor jedem Haus in der Antigua Street türmt sich solch ein Haufen. In anderen Straßen ist der Lehm so hoch, dass Autofahren zum Wellenreiten wird – mit den Kraterlöchern, aus denen die Masse quoll, als Schikanen.

Der zähe Sand ist während des verheerenden Erdbebens in vielen Stadtteilen von Christchurch aus dem Boden geschossen, als sich der schwammige Untergrund verflüssigte – ein Phänomen, das hier „liquefaction“ heißt.

Steven, der Sohn der Keys, war zu Hause, als die Erde am Dienstag grollte und die zweitgrößte Stadt Neuseelands in weiten Teilen in Schutt und Asche legte. „Dieses sandige Wasser ist wie Lava aus einem Vulkan geschossen“, erzählt er, „und in Sekundenschnelle war all dieser Schlamm hier, 20 Zentimeter hoch.“

Das Haus beim September-Beben verloren

Da ist viel zu schaufeln, und Iris Cross hilft, weil sie ihr Haus im Stadtteil Dallington beim Beben im vergangenen September verloren hat und bei den Keys untergekommen ist. Jetzt sind alle nach Hornby umgezogen, aber der Sohn will nur noch weg.

Zwei schwere Erdbeben innerhalb von fünfeinhalb Monaten sind mindestens eins zuviel. Steven hängt am Telefon und arrangiert eine Reise auf die Nordinsel nach Hamilton, und Iris Cross sagt: „Mein Mann ist vor 13 Jahren gestorben, mein Haus ist weg. Was will ich eigentlich noch hier?“

Air New Zealand fliegt Touristen und Einheimische, die das Chaos und die ständigen Nachbeben nicht mehr aushalten, für 50 NZ-Dollar auf die Nordinsel. Aber das ist natürlich nur eine vorübergehende Erleichterung.

Der Anblick ihres verrutschten Hauses, mit Rissen im Fundament, und der unter dem Schlamm verschwundenen frisch bepflanzten Gartenrabatte war der dritte Schock des Tages, den Glenys Key zu verdauen hatte. Sie hat den Horror in der Innenstadt hautnah miterlebt. Sie war bei der Arbeit beim Finanzamt. „Alles Glas ist zerbrochen, und ich bin nur noch nach draußen gerannt“, erzählt sie. „Und dort ist gegenüber das CTV-Gebäude eingestürzt.“

Ein wirrer Haufen aus Betonbrocken und Metallteilen

Mehr als 100 Menschen sollen in dem siebenstöckigen Bau des lokalen Fernsehsenders begraben sein, darunter viele ausländische Schüler einer Sprachschule, die im dritten Stock untergebracht war. Es ist eine seltsame Ruine. Die sieben Etagen sind noch an einer Außenwand zu erkennen, die stehen geblieben ist. Alles andere ist eingestürzt und präsentiert sich jetzt als wirrer Haufen aus Betonbrocken und Metallteilen.

Die Einsatzleitung der Polizei fuhr gestern Journalisten in Bussen zu drei markanten Stellen im Sperrgebiet, um den Medien Einblick in das Ausmaß der Zerstörung und die Rettungsarbeiten zu geben. Unter Einhaltung strikter Sicherheitsregeln war es möglich, die Straßen zu begehen. „Die Straßenmitte ist normalerweise am sichersten“, sagt der zum Journalistenführer abkommandierte Hauptwachtmeister Darren Harris. „Und dass bloß keiner auf die Idee kommt, sich unter einen Balkon zu stellen oder ein Absperrband zu ignorieren.“

Am CTV-Gebäude in der Cashel Street lautet die Anweisung: „Rechts halten. Die Kirche links kann jeden Augenblick einstürzen.“ Das Gotteshaus der Samoa-Gemeinde bietet einen erbärmlichen Anblick. Sie ist noch eingerüstet, weil Reparaturarbeiten nach dem Erdbeben im vergangenen September im Gange waren.

Das höchste Gebäude der Stadt als schiefer Turm

Jetzt ist das Gerüst verschoben, die Fassade bröckelig, die hintere Kuppel schief. Auch hier ist es nur eine Frage der Zeit, wann das einst stolze Gotteshaus zu einem Haufen Schutt verkommt – so wie das Hotel Grand Chancellor ein paar hundert Meter weiter. Der 17-stöckige Turmbau lehnt nach Süden und nach Osten. Auch hier hat sich der Untergrund verflüssigt.

Die Rettungsarbeiten am CTV-Gebäude waren schon abgebrochen worden, weil Spürhunde keine Anzeichen von Leben erschnuppern konnten. Aber jetzt wird wieder an diesem mutmaßlichen Massengrab gearbeitet, vermutlich vor allem deshalb, weil Japan eine 67-köpfige Suchmannschaft und drei Hunde geschickt hat, um nach 27 vermissten japanischen Schülern zu suchen.

Am Einsatzzentrum an der Art Gallery sind im Minutentakt japanische Journalisten aus Taxis gestiegen, und wie auf Kommando marschiert jetzt die japanische Truppe am CTV-Gebäude ein. Ohnehin wächst das internationale Kontingent an Helfern täglich: 142 Spezialkräfte aus Australien, 24 aus Taiwan, 55 aus Singapur und Großbritannien sowie 80 aus den USA. Sie kommen mit Spürhunden, einem Feldhospital und vielen Tonnen Ausrüstung nach Christchurch.

Die Luft riecht nach Rauch, Qualm steigt auf

Die Luft riecht nach Rauch. Qualm von einem vor sich hin schmorenden unzugänglichen Brandherd und Staub steigen auf. Links steht ein Kran, rechts gräbt ein Bagger Schutt ab, und auf dem schmorenden Haufen kämpfen sich sieben Helfer mit Presslufthammern durch den aufgetürmten Beton. Aber irgendwie wirken sie eher ratlos als enthusiastisch.

Der Anblick dieser angesengten Ruine hat mehr als nur einen Hauch von Tod. Keine hundert Meter weiter stehen die Autos beim Händler „Canterbury Mazda“ ohne einen Kratzer auf dem Hof, auch die Scheiben des Ausstellungsraums sind unversehrt.

Es sind jene Skurrilitäten, die keiner wirklich versteht. Die heile Welt neben dem Horror. Hier der totale Exitus, 98 bestätigte Tote und 226 Vermisste, dort – wie im Hügelvorort Cashmere – ein glorreicher Sommertag mit blitzblanken Kirchen und so gut wie keinen sichtbaren Schäden.

Wie aufeinander gestapelte Pfannkuchen

An der Cambridge Terrace, direkt am Avon, leuchtet der in ein Restaurant namens Retour umfunktionierte Musikpavillion, die einstige Edmonds Band Rotunda, mit seiner grünen Zinnkuppel schön wie eh und je unterm blauen Himmel, und daneben bietet sich der erschütternde Anblick der wie Pfannkuchen aufeinander geschichteten vier Etagen des Pyne-Gould-Gebäudes.

Der nach oben gewölbte Beton wirkt wie eine deformierte Brücke oder Straße, nicht wie ein Bau, in dem Menschen gearbeitet haben. Der Aufzugschacht ragt wie ein Finger schräg in die Luft.

Vor der turmlosen Kathedrale, dem Wahrzeichen der Stadt, stehen noch die Blumenkübel der Internationalen Blumenschau. Die Formschnitthecken Elefant, Giraffe und Hirsch sind unversehrt. Und die Figuren des großen Schachspiels stehen auf ihren Feldern, als würde in einer Minute weitergespielt. Dahinter die zerstörte Kathedrale, in der vermutlich mehr als 20 Menschen im Kirchenschiff gestorben sind, davor ein zermalmter Pkw.

Gebäude mit 120 Prozent ihrer Belastbarkeit belastet

Keith Murphy ist zuständig für die Bergungsarbeiten in diesem berühmten Gotteshaus, das Christchurch den Namen gab. „Die Reaktionen der Spürhunde deuten stark darauf hin, dass sich Menschen in der Kirche befinden“, sagt er. „Sie müssen sich im Kirchenschiff befinden, denn ich konnte die Treppe im Turm inspizieren, und dort ist niemand.“

Murphy war auch nach dem Beben im September im Einsatz. „Die Schäden damals waren nichts im Vergleich zu jetzt“, sagt er. Da das Epizentrum damals 70 Kilometer entfernt war, wurden die modernen Gebäude nur mit 20 Prozent ihrer Belastbarkeit belastet, diesmal aber – weil das Epizentrum nur zwölf Kilometer entfernt im Vorort Lyttelton lag – mit 120 Prozent. Deshalb diese Zerstörung.

Fünfzig Meter vor der Kathedrale ist Robert John Godley, der Gründer der Stadt, der immer stolz auf das Rosettenfenster blickte, von seinem Denkmal-Sockel gestürzt, mit dem Gesicht auf die Pflastersteine. So, als könnte er nicht mitansehen, was das Erdbeben mit Christchurch angerichtet hat.