10.09. Kathedrale gerettet
Ein Symbol der Hoffnung für die "Donut City"
CHRISTCHURCH. Victoria Matthews sieht mit ihren grauen Haaren und den strengen Gesichtszügen älter aus als sie ist. Aber auch sie hält es für eher unwahrscheinlich, dass sie noch Bischöfin von Christchurch ist, wenn die anglikanische Kathedrale, die Christ Church Cathedral, wieder in voller Pracht vom Mittelpunkt der zweitgrößten Stadt Neuseelands in den Himmel ragt. „Ich könnte noch am Leben sein, um es zu sehen, aber wenn es zehn Jahre dauert, bin ich betagt“, sagt die 63 Jahre alte gebürtige Kanadierin.
Wiederaufbau und Reparaturen des bei den schweren Erdbeben im Jahr 2011 beschädigten Gotteshauses haben nämlich noch nicht begonnen. Aber immerhin, der Dauerstreit und die juristischen Auseinandersetzungen um das Gebäude, die die Bevölkerung gespalten haben, sind vorbei, nachdem die Synode der anglikanischen Diözese mit einer knappen Mehrheit von 55 Prozent entschieden hat, die Kathedrale reparieren und nicht abreißen zu lassen.
„Ich kann mit der Entscheidung sehr gut leben“, sagte die Bischöfin und setzte ihr süßestes Lächeln auf. „Ich habe das Gebäude immer geliebt, daran besteht kein Zweifel. Aber die Kirche ist kein Spendensammler.“
Seltsame Worte in einem Land ohne Kirchensteuer
Letzteres sind seltsame Worte in einem Land, in dem es keine Kirchensteuer gibt. Und die Liebe hielt sich derart in Grenzen, dass das Kirchenoberhaupt fünf vor zwölf sogar noch eine dritte Option ins Spiel brachte, über die die rund 200 Mitglieder der Synode abstimmen sollten: nämlich den ramponierten neugotischen Bau dem Staat zu schenken, samt den 42 Millionen NZ-Dollar (25,3 Mio. Euro) Entschädigung der Versicherung, die, wie ein Gericht entschieden hatte, ausschließlich für Baumaßnahmen an exakt der Stelle ausgegeben werden dürften, wo die Kathedrale heute steht.
Option eins war Abriss und Neubau, Option zwei die Restaurierung. Letzteres war die einzige akzeptable Lösung für die Regierung, die angesichts der Tatenlosigkeit im Herzen der Stadt eine Mediatorin eingesetzt hatte, um die Bautätigkeit rund um das verwaiste und von Tauben heimgesuchte Gebäude anzukurbeln und den Platz vor der Kathedrale endlich wieder zum Mittelpunkt des Lebens in Christchurch zu machen.
In den vergangenen zwei Jahren hatten die Kirchenoberen mehrmals eine Entscheidung angekündigt und doch immer wieder verschoben, nachdem ihnen der Oberste Gerichtshof in letzter Instanz schon im Dezember 2013 grünes Licht für den Abriss gegeben hatte.
"Sehr gefährlich" - "Unpraktisch" - "Menschen wichtiger als Gebäude"
Mit der Regelmäßigkeit einer tibetanischen Gebetsmühle hatte die Bischöfin – trotz gegenteiliger Expertenmeinung – immer wieder betont, das Gebäude sei „sehr gefährlich“, „unpraktisch“ und Menschen seien „wichtiger als Gebäude“, das besser durch einen billigen Neubau ersetzt werde sollte.
Dieser von Kritikern als Vandalismus bezeichnete Plan führte zur Gründung einer Stiftung namens „Great Christchurch Building Trust“ (GCBT), deren Wortführer der ehemalige Politiker Jim Anderton und der reiche Geschäftsmann Philip Burdon waren. Es heißt, Burdon habe mehr als 360.000 Euro für die Gerichtsprozesse ausgegeben, um den Abriss des Namensgebers und Wahrzeichens der Stadt zu verhindern.
Im Falle einer Entscheidung der Synode pro Abriss hätte er weiterhin jahrelang prozessiert, um das denkmalgeschützte Gebäude zu retten. Die Revitalisierung des Stadtzentrums hätte sich weiterhin verzögert, Christchurch wäre eine „Donut City“ geblieben, eine Stadt, die aussieht wie ein dicker Krapfen mit Loch in der Mitte.
"Alles andere als eine Restaurierung wäre verrückt"
Angesichts der Unnachgiebigkeit der Bischöfin und der jahrelangen Kämpfe zeigte sich Burdon „überglücklich, erleichtert und überrascht“ vom Entschluss der Synode, deren Mitglied Steve Wakefield im Vorfeld auf eine pragmatische Lösung gedrängt hatte. „Alles andere als eine Restaurierung wäre verrückt“, sagte er. „Es würde bedeuten: mehr Geldverschwendung für Anwälte und mehr Jahre, in denen der Ruf der anglikanischen Kirche weiter ramponiert würde.“
Bürgermeisterin Lianne Dalziel erinnerte das Gremium daran, dass die erst 1904, nach 40 Jahren Bauzeit, fertiggestellte Kathedrale „das Herz und die Seele der Stadt“ sei und nicht bloß ein Gebäude, ein Teil der Geschichte.
Die Tageszeitung „The Press“ rief die Kirchenoberen mit einem seitenfüllenden Kommentar auf dem Titelblatt auf, „die richtige Entscheidung“ zu treffen. „Die Kathedrale hat eine Kraft, Wichtigkeit und ein Echo, das weit über die anglikanische Gemeinde hinausreicht“, schrieb die Chefredakteurin Joanna Norris. Der Wiederaufbau „wäre eine Geste der Güte und würde unserer Stadt Hoffnung geben“. Aufbruchstimmung, ein Symbol der Einigkeit nach den Jahren der Spaltung durch den fortwährenden Streit um die Kirche, deren Turm am 22. Februar 2011 teilweise einstürzte.
Größte Schäden durch menschliches Versagen, nicht Erdbeben
Obwohl das Kirchenschiff lieblos Wind, Wetter und Tauben preisgegeben wurde, hat es sich geweigert einzustürzen. Es steht mit schnurgeradem Dachfirst und intakten Schieferplatten trotzig in der Einöde. Lediglich an der Westfassade, wo sich die Fensterrose befand, zwischen Dachfirst und Hauptportal, klafft eine überdimensionale Lücke.
Dieser massive Schaden ist nicht durch das Februar-Erdbeben, sondern durch menschliches Versagen entstanden: Die Wand wurde bei der nächsten großen Erschütterung im Juni 2011 durch ein Metallgerüst eingeschlagen, das zu ihrem Schutz installiert worden war. Die untere, durchaus noch stabile Hälfte des eingestürzten Turms wurde im April 2012 mithilfe einer Abrisszange zertrümmert.
Die Finanzierung von Restaurierung und Wiederaufbau steht auf recht soliden Beinen. Mit dem Versicherungsgeld, großzügigen Zuschüssen von Regierung und Stadt sowie zahlreichen üppigen Spendenversprechen sind rund 54 Millionen Euro gesichert, so dass lediglich eine Lücke von rund neun Millionen Euro mit weiteren Spendenaufrufen zu schließen ist.
Doch trotz des Spruchs der Synode geht es nicht sofort an die Arbeit. „Wir wachen nicht morgen auf und es steht eine andere Kathedrale da“, sagt Victoria Matthews. „Erst einmal müssen die Anwälte die Formalitäten erledigen.“ Zumindest ein Berufsstand muss auch nach dem Ende der Dauerfehde nicht um seine Zukunft fürchten.
(Copyright: Sissi Stein-Abel)