Der haarige Speer
Der Sommernachtstraum der Sympathieträger
AUCKLAND. Auf der Benimm-Skala des Crickets sind die Spieler aus Neuseeland und Südafrika Musterknaben. Deshalb fanden es viele jammerschade, dass nur eine dieser beiden Mannschaften ins Finale der Weltmeisterschaft einziehen konnte, nämlich im elften Anlauf zum ersten Mal Neuseelands Black Caps.
Ausgerechnet ihr in Südafrika geborener Schlagmann Grant Elliott drosch den vorletzten Ball auf die Tribüne und beendete mit diesem Sechs-Punkte-Geschoss ein ebenso hochklassiges wie nervenzerfetzendes Duell.
Nach sechs Halbfinal-Niederlagen, einer zweistündigen Regenunterbrechung und insgesamt fast sieben Stunden reiner Spielzeit lachte den Black Caps am späten Dienstagabend kurz vor 22 Uhr endlich die Sonne, wie in einem Sommernachtstraum.
Die 41.279 Zuschauer im ausverkauften Eden Park in Auckland waren außer Rand und Band, tanzten, brüllten, krächzten und umarmten einander. Das ganze Land, eine Nation von Rugby-Verrückten, liegt endgültig im Cricket-Fieber.
Verbalkrieger aus Australien und Indien
Das Kontrastprogramm in punkto Sympathie werden Australien und Indien heute (4.30 Uhr MEZ) in der zweiten Halbfinal-Begegnung in Sydney liefern. Beide Teams sind nicht nur für ihre Aggressivität berühmt-berüchtigt, sondern auch für ihre Verbalkriege, die ihnen schon massenhaft Strafen eingebracht und ihren schlechten Ruf begründet haben.
Egal, wer diesmal gewinnt, der neutrale Rest der Cricket-Welt wird im Endspiel am Sonntag (4.30 Uhr MEZ) vor mehr als 100.000 Zuschauern im weltberühmten Melbourne Cricket Ground (MCG) den Neuseeländern die Daumen drücken. Die Wetten favorisieren die Australier, die gemeinsam mit Neuseeland Gastgeber der Weltmeisterschaft sind und auf der Zielgeraden Heimvorteil haben.
Das unrühmlichste Kapitel in der Litanei der geistigen Tiefflüge haben die Inder geschrieben. Im Mittelpunkt der Affäre stand der dunkelhäutige Australier Andrew Symonds, der mit seinen Alkoholeskapaden selbst kein Kind von Traurigkeit war. Bei der Indien-Tour 2007/08 musste er mit rassistische Beleidigungen niedergemacht; die Zuschauer und der als „Turbanator“ bekannte Bowler Harbhajan Singh beschimpften ihn als „Affen“.
Geringere Strafe dank indischer Allmacht
Einige Zeit später in Sydney beleidigte Singh den Australier in Hindi, und es klang so ähnlich wie „Affe“ (monkey). Anscheinend war das Wort aber noch viel schlimmer. Der Vorfall ging vor Gericht, Singh wurde für drei Spiele gesperrt, doch der Weltverband ICC reduzierte die Strafe, weil der indische Verband, der im ICC mittlerweile Allmacht hat, mit Abreise drohte.
Bei der nächsten Indien-Tour verpasste der Inder Gautam Gambhir dem Australier Shane Watson einen Ellbogen-Check. Zaheer Khan verlor wegen verbaler Entgleisungen 80 Prozent seiner Gage. „Nur“ 50 Prozent seines Verdiensts musste Virat Kohly zahlen, als er im Januar 2012 den Fans im Sydney Cricket Ground den Mittelfinger zeigte.
Dieses Jahr erwischte es erneut Kohly und seinen Teamkollegen Shikar Dhawan. Der Australier David Warner bekam sogar zwei Geldstrafen aufgebrummt. Dem 1,70 Meter kleinen Mann mit der großen Klappe droht deshalb sogar eine Sperre fürs Endspiel, sollten die „Aussies“ so weit kommen.
Leidenschaft der Black Caps begeistert Neuseeland
Die Black Caps haben während dieser Weltmeisterschaft sportliche Helden produziert, und ihre Leidenschaft hat ganz Neuseeland in den Bann gezogen.
In dem Halbfinal-Krimi gegen Südafrika legte Kapitän Brendon McCullum im Eröffnungspaar mit 59 Punkten aus 29 Würfen den Grundstein zum Erfolg, ehe Grant Elliott als quasi letzter Mann 84 Punkte aus 73 Würfen produzierte, als die Black Caps bei ihrer Aufholjagd einen Schnitt von acht Punkten pro Over (sechs Würfe) benötigten.
Südafrika hatte 281 Punkte (bei fünf Wickets = fünf ausgeschiedene Spieler) in 43 Overs vorgelegt, aber Neuseeland (sechs Wickets) musste 298 Punkte in ebenso vielen Overs erzielen, um die Proteas zu überflügeln.
Die Partie war wegen Regens nach knapp drei Stunden für zwei Stunden unterbrochen und deshalb von jeweils 50 auf 43 Overs verkürzt worden. In solchen Fällen wird nach der sogenannten Duckworth-Lewis-Methode hochgerechnet, welchen Vorteil das später schlagende Team hat, da es im Gegensatz zu der eröffnenden Mannschaft die Spieldauer von Anfang an kennt.
Regenunterbrechung als Rettung in der Not
Den Black Caps konnte eigentlich nichts Besseres als die Verkürzung passieren, denn nach starkem Beginn – nur 129/3 Punkte in 30 Overs – genehmigten ihre Werfer den Südafrikanern in den verbleibenden 13 Overs unglaubliche 152 Punkte.
Am anderen Ende verursachte der eigene Mitspieler, Ross Taylor, mit einer unsinnigen Laufaktion das Ausscheiden von Martin Guptill, der im Viertelfinale gegen die West Indies mit 237 Punkten einen WM-Rekord aufgestellt hatte.
Neuseeland sah seine Felle davonschwimmen. Doch für Mister „Two Toes“ (Zweizeher) sprang der 36-jährige Grant Elliott ruhig und nervenstark in die Bresche. So manch einer meint, spätestens jetzt hätte der extrem schlanke Senior einen positiveren Spitznamen als „Hairy Javelin“ (haariger Speer) verdient…
(Copyright: Sissi Stein-Abel)
Text vom 25. März 2015