04.09. Jacinda-mania

Aufbruchstimmung nach Pferdewechsel bei Labour

"Mein Jahr mit Helen“ ist gerade in den Kinos in Neuseeland angelaufen. Es ist eine Dokumentation der Regisseurin Gaylene Preston über den Wahlkampf Helen Clarks, der ehemaligen Premierministerin Neuseelands, um den Posten des UN-Generalsekretärs. Vier Sterne ist der Streifen den Kritikern wert.

Nach dem erfolglosen Rennen um den höchsten Posten der Vereinten Nationen und dem Ende ihrer Amtszeit als Chefin des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in New York ist die 67-jährige Vollblutpolitikerin in die Heimat zurückgekehrt, wo der Wahlkampf vor den Parlamentswahlen am 23. September in die heiße Phase eingetreten ist.

Dass sie Zeugin der unverhofften Wiederauferstehung der Labour-Partei werden und eine Nachfolgerin in die Arme schließen würde, der die Herzen nur so zufliegen, hatte sich die extrem fähige, aber nicht sonderlich beliebte Unruheständlerin sicherlich nicht träumen lassen. Doch der Pferdewechsel kurz vor Torschluss hat für einen wetterumsturzgleichen Stimmungswandel im Land der Kiwis gesorgt.

Nichts scheint mehr unmöglich

Jacinda-mania nennen es die einen, Jacinda-Effekt die anderen. Fakt ist, dass seit dem Rücktritt des Vorsitzenden Andrew Little und der Inthronisierung von Jacinda Ardern am 1. August Labour im Raketentempo zu der regierenden Nationalpartei um Premierminister Bill English aufgeschlossen hat und nichts mehr unmöglich scheint.

In Zahlen liest sich der Übergang von „Angry Andy“, dem wütenden Andrew Little, der mit seiner Sauertopfmiene und dem blaffenden Ton bei den Wählern nicht ankam, zu „Jacinderella“ – abgeleitet von dem zur Prinzessin aufgestiegenen Aschenputtel (Cinderella) – in der Tat beeindruckend.

Vor dem durch die miserablen Umfrageergebnisse bedingten Rücktritt des ehemaligen Gewerkschaftsführers sank Labour mit 24 Prozent auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren, die Nationalpartei lag bei stolzen 47 Prozent – genauso hoch wie beim Wahlsieg 2014, und Labour noch unter dem damaligen Resultat (25,1).

Hauptdarstellerin eines Wahlkrimis

Jetzt variieren die Werte für beide Parteien, je nach Umfrageinstitut, von 39 bis 43 Prozent. Selbst die internen Umfragen der Konservativen sehen die Nationalpartei nur einen Prozentpunkt vor den Sozialdemokraten. „Das ist ermutigend, aber kein Ruhekissen“, sagt die Hauptdarstellerin des anstehenden Wahlkrimis.

Doch worauf beruht die Jacinda-mania? Es kann nicht nur daran liegen, dass die 37 Jahre junge Labour-Chefin mit ihren langen kastanienbraunen Haaren, dem strahlenden Teint, den knallrot geschminkten Lippen und der tollen Figur eine attraktive Frau ist. Dieses gute Aussehen verführt Kritiker zur Aussage, Ardern sei ein politisches Leichtgewicht ohne Substanz, gut im Lächeln, aber ohne Detailwissen.

Es ist sicherlich das Gesicht mit den funkelnden Augen, das die Menschen anzieht, denn darin entdecken sie Qualitäten, die sie bei den meisten Politikern vermissen: Aufrichtigkeit, echtes Mitgefühl und Herzlichkeit. Deshalb zieht die „Neue“, die seit 2008 im Parlament sitzt, auch junge Leute an, verbreitet Aufbruchstimmung.

Moralisch einwandfreies Handeln kontra gut gefüllter Kühlschrank

Plötzlich zählt nur noch marginal, dass die Wirtschaft unter English, der nach dem überraschenden Rücktritt des beliebten John Key erst im vergangenen Dezember Premierminister geworden war, gut dasteht.

Stattdessen bekommt die Regierung täglich aufgetischt, was in ihren neun Amtsjahren schlecht oder nicht besser wurde: Kinderarmut, die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, Kriminalität, verfehlte Wohnungsbaupolitik, verseuchte Flüsse und Seen durch exzessive Förderung der Milchwirtschaft, Beschneidung der Budgets für Bildung, Gesundheit und Umweltschutz.

Arderns Anspruch, moralisch einwandfrei zu handeln, konterte der 55 Jahre alte English in der ersten von zwei TV-Debatten mit den Worten: „Mit Werten können sich die Leute keine Lebensmittel kaufen.“

Absturz der Grünen nach zu spätem Rücktritt der Co-Vorsitzenden

Nicht nur Neuseeländer, die solche Sprüche und Karrierepolitiker satthaben, sind – zumindest in den Umfragen - zu Labour übergelaufen. Die Partei profitiert auch von der Ernüchterung der Anhänger der Grünen. Deren Co-Vorsitzende Metiria Turei gab zu, vor vielen Jahren beim Sozialamt – wie sich später herausstellte: ohne Not - gelogen zu haben, um eine höhere Sozialhilfe zu kassieren.

Ihre Rechtfertigung des Betrugs und der verspätete Rücktritt stürzten die Partei, die bei der Wahl vor drei Jahren 10,7 Prozent der Stimmen erhielt, vorübergehend in die Bedeutungslosigkeit; jetzt krebst sie um die Sechs-Prozent-Marke herum.

Auch dieses Beispiel lässt sich Ardern, die einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft vorweisen kann, Whiskey trinkt und historische Nachttöpfe sammelt, eine Warnung sein. „Man kann in der Politik eine tolle Karriere machen, und dann pfffft …, ist mit einem Schlag alles vorbei, und man ist weg vom Fenster.“ Auch ihre politische Ziehmutter Helen Clark kann ein Lied davon singen.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)