12.03. Mütter der Plaza

Was kein Diktator schaffte, schafft das Corona-Virus

BUENOS AIRES. Es war kein Jubiläum, sondern Auflage Nummer zweitausendeinhundertsiebenundachtzig. Es war ein Donnerstagnachmittag wie immer. Seit dem 30. April 1977 geht das so. 15:30 Uhr, Plaza de Mayo, der Platz der Mairevolution, in Buenos Aires: Die „Madres de Plaza de Mayo“ binden sich ihre weißen Kopftücher um, hängen sich Fotos ihrer Kinder, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 in Argentinien spurlos verschwanden, um den Hals und marschieren rund um den Obelisk, der die Unabhängigkeit von Spanien 1810 markiert. 

Seit jenem Tag im April 1977 protestieren sie für Wahrheit, Gerechtigkeit und gegen das Vergessenwerden von rund 30.000 Menschen. Aber dieser Donnerstag war anders. Die Mütter, die mittlerweile längst im Großmütter-Alter sind, kamen zum Platz vor dem Präsidentenpalast, der Casa Rosada, aber nur eine kleine, zierliche alte Dame mit Kopftuch ging zu Fuß und führte einen Demonstrationszug von Sympathisanten an. Die anderen „Madres“ drehten ihre Runden in einem weißen Kleinbus und winkten dem applaudierenden Volk zu.

Keinem Diktator und keinem General war es in den Jahren des Terrors in der südamerikanischen Metropole gelungen, die Mütter von ihren Protesten abzuhalten; nicht einmal das spurlose Verschwinden der ersten Vorsitzenden dieser Menschenrechtsorganisation hatte sie abgeschreckt. Aber das Corona-Virus - am Donnerstag gab’s in Argentinien offiziell 30 Infizierte in den Provinzen Buenos Aires, Córdoba und Chaco - hat es geschafft. 

Aufgrund des Gesundheitsrisikos für betagte Menschen ließen sich die „Madres“ schweren Herzens, aber angesichts der Liebesbeweise der Passanten glücklich strahlend, rund um den Platz chauffieren, und da die Regierung ein Verbot für Veranstaltungen verhängt hat, bei denen es zu großen Menschenansammlungen kommt, werden wohl auch die Märsche der Mütter bis auf weiteres ausgesetzt.


Auch wenn sie nicht da sind, sind die Mütter allgegenwärtig

Doch selbst wenn es soweit kommen sollte, sind die mutigen und zähen Frauen auf der Plaza de Maya stets präsent: Rund um den von einem schwarzen Gitterzaun umgebenen Obelisk ist das Kopftuch-Symbol mit weißer Farbe auf die grauen Pflastersteine des Platzes gepinselt. 

Auch das ist ein in jedem Augenblick sichtbarer Appell, das Schicksal der 30.000 Menschen aufzuklären, die während der Diktatur verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Das Kopftuch ist nicht nur ein Zeichen des Protestes, es symbolisiert auch Babywindeln für die verschwundenen Kinder. Das hat in vielen Fällen doppelte Bedeutung, denn mit den Kindern der Mütter wurden auch deren Säuglinge verschleppt, viele Babys kamen in Gefangenschaft auf die Welt. Nach dem Tod der Eltern wurden sie an die Schergen des Regimes – Soldaten- und Polizistenfamilien – veradoptiert.

Die Schwesterorganisation „Abuelas de Plaza de Mayo“, die Großmütter des Platzes der Mairevolution, arbeitet unermüdlich daran, diese gestohlenen Babys aufzuspüren, die mittlerweile ja rund 40 Jahre alt sind. Auf ihrer Website www.abuelas.org.ar sind die Sucherfolge – 130 an der Zahl – detailliert aufgelistet. Meistens melden sich Menschen bei den „Abuelas“, die Zweifel an ihrer Herkunft haben, und werden dann mithilfe von aufbewahrten DNA-Proben identifiziert und zugeordnet. 


Noch immer finden gestohlene Babys ihre ursprünglichen Familien

Auf diese Weise fand im vergangenen Jahr ein 42-jähriger Mann namens Javier Matías Darroux Mijalchuk seine ursprüngliche Familie wieder. Er wurde, damals vier Monate alt, zusammen mit seinen Eltern im Dezember 1977 eingesperrt. Deren Schicksal ist ungeklärt. Der Horror ist unfassbar. Viele Verhaftete wurden nach den Qualen in den geheimen Gefangenenlagern in Flugzeuge gepackt und aus großer Höhe lebendig in den Río de la Plata geworfen.

Eines dieser Folterzentren des sogenannten „Schmutzigen Krieges“ war der Sportklub Club Atlético, der heute sogar auf touristischen Stadtrundfahrten erwähnt wird. Es ist ein gespenstischer Ort, den man nur zu Fuß erreicht, denn er liegt unter einer mehrspurigen Stadtautobahn. Nach dem Ende der Diktatur wurde das Gebäude teilweise abgerissen und das, was übrig war, zugeschüttet und unter der Autobahn begraben. Dank der Erinnerungen von Überlebenden wurden mittlerweile große Teile freigelegt. 

Während auf der einen Seite der Straße unter der Schnelltrasse eine Gedenkstätte mit Informationstafeln errichtet wurde, wird auf der anderen Seite noch immer im Boden gewühlt. Auf einem großen Dreckhaufen stecken Tafeln mit den Fotos von vornehmlich argentinischen Sozialisten, die hier gefoltert und dann – hier oder anderswo – umgebracht wurden. 

Es ist ein Ort des stillen Gedenkens und des Entsetzens, an dem der systematische Militärterror lebendig wird. Der Teil der Geschichte Argentiniens, den die „Madres de Plaza de Mayo“ nicht gewillt sind, in Vergessenheit geraten zu lassen.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)

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