19.02. Big Shot
Die Wildschweinjagd der starken Männer
CHRISTCHURCH. Natürlich lachte Tom Walsh, als er sagte, der sicherste Weg, seinen Rivalen Ryan Crouser loszuwerden, wäre, ihn in dieser Woche bei der Wildschweinjagd im Wald zu verlieren. In den Marlborough Sounds, den vor der Nordküste der Südinsel Neuseelands ins Meer gestreuten Sunden, kann man sich leicht verirren. Und genau dorthin reist eine Handvoll der besten Kugelstoßer der Welt für einige Tage, bevor sie am Sonntag in Auckland zu ihrem nächsten Wettkampf antritt.
Der hochkarätig besetzte „Big Shot“ in Christchurch hat gezeigt, dass weder Crousers Olympiasieg noch seine in Rio erzielte Bestweite (22,52 Meter) Zufallsprodukte waren. 22,05 Meter weit wuchtete der US-Amerikaner den 7,26 Kilo schweren Eisenball aus dem transportablen Ring im Zentrum der zweitgrößten Stadt Neuseelands.
Auch Lokalmatador Walsh, der Olympia-Dritte, übertraf mit 21,46 Metern die Jahresweltbestmarke des Polen Konrad Bukowiecki (21,17) deutlich. Sein Landsmann Jacko Gill bestätigte als Dritter mit 20,69 Metern seinen in der Vorwoche erzielten Hausrekord von 21,01 Metern. Fünf 21-Meter-Stoßer trieben sich an einem trüben Sommertag am anderen Ende der Welt zu großen Taten an.
Aber eben dieser Ryan Crouser. Der 2,01-Meter-Riese überraschte sich mit seinem Kracher im zweiten Versuch sogar selbst. „Das sind mehr als zwei Meter weiter als beim Saisonauftakt im vergangenen Jahr und mitten aus dem Maximalkrafttraining heraus“, sagte der 24 Jahre alte Amerikaner. „Es war nicht schlecht, aber ein bisschen unkontrolliert, und es fehlte ein bisschen das Tempo.“
Nur eine Frage: Wann ist der Weltrekord fällig?
Aus diesen Aussagen und dem Resultat lässt sich natürlich leicht eine Hochrechnung erstellen, die nur eine Frage zulässt: Wann ist der Weltrekord fällig, jene 23,12 Meter, die Randy Matson (USA) 1990 in der Hochzeit des Dopings erzielte?
Crouser war damals noch nicht einmal auf der Welt. „Mein nächstes Ziel sind ganz offensichtlich die 23 Meter, und gleich danach die 23,12 Meter“, sagte er, „davon bin ich noch ein kleines Stück entfernt, aber es ist möglich. Im April möchte ich soweit sein, dass ich einige hohe 22-Meter-Weiten erziele, und dann kommt ja das Prefontaine Classic in Eugene.“ Das Diamond-League-Meeting in Oregon am 26. und 27. Mai ist Crousers Heimspiel; er wurde 200 Kilometer entfernt in einem Ort mit dem unpassenden Namen Boring („langweilig“) geboren.
Sofern er denn die Wildschweinjagd und Angeltour in den Marlborough Sounds sowie das Meeting in Auckland unbeschadet übersteht, wird er sich in den USA wieder voll ins Krafttraining stürzen. „Das macht Spaß, weil man schwer und stark wird“, sagt Crouser, der trotz seiner Größe nicht der stärkste Mann der Szene ist. „Ich schaffe im Bankdrücken nur 220 Kilo, während andere 250 Kilo und mehr stemmen.“
Wie ein Tänzer im Dreivierteltakt
Er sieht seinen Vorteil gegenüber der Konkurrenz in der Technik: „Ich denke, ich mache mehr Stöße als die meisten anderen, vor allem leichte Stöße, und so perfekt wie möglich. Ich habe den Bewegungsablauf viele zehntausend Mal gemacht.“ Der Drehstößer huscht geschmeidig durch den Ring, fast wie ein Tänzer im Dreivierteltakt. Alles sieht mühelos und entspannt aus.
Tom Walsh, mit seinen 1,85 Metern der kleinste Weltklassemann, kompensiert die kürzeren Hebel mit der schnellsten Drehung, überdrehte in Christchurch aber am Ende leicht und brachte nicht die volle Wucht hinter die Kugel. Auch er hat also deutliches Verbesserungspotenzial. „Wenn das Timing stimmt, kann auch ich deutlich über 22 Meter stoßen“, sagt der amtierende Hallen-Weltmeister, dessen Hausrekord bei 22,21 Metern steht.
Crousers Respekt ist ihm gewiss: „Tom hat mich zu meiner heutigen Leistung getrieben. Er ist ein unglaublicher Wettkämpfer – und trickreich. Im Training stößt er manchmal absichtlich kürzer, um dann im Wettkampf zu explodieren. Man weiß nie, woran man mit ihm ist. Er liebt Psycho-Spielchen.“
Whiting mit prothesen-artigen Kunststoff-Kniestützen
Der 22 Jahre junge Kraftprotz Jacko Gill, der sämtliche Jugend- und Junioren-Weltrekorde hält, hatte Pech, dass ein 21-Meter-Stoß knapp außerhalb des Sektors landete. Unter Wert geschlagen wurde der zweifache Hallen-Weltmeister Ryan Whiting (Fünfter mit 19,58 hinter dem Australier Damien Birkinhead/20,21), aber der US-Amerikaner wähnt sich in seinem Comeback-Jahr auf einer steilen Aufwärtskurve, nachdem er im Vorjahr aufgrund einer Knieverletzung die Qualifikation für die Olympischen Spiele verpasst hatte.
Was er hinter sich hat, kann man beim Blick auf seine vom Oberschenkel bis zu den Waden reichenden prothesen-artigen Kunststoff-Kniestützen erahnen, mit denen er die Gelenke stabilisiert: Der Dreißigjährige, dessen Hausrekord aus dem Jahr 2013 bei 22,28 Meter steht, erholt sich von einer langwierigen Knochenstauchung rechts und einem im Oktober operierten Meniskusriss links.
Diese Schwäche wiederum führt zu einer Überlastung der Knöchel. „Ich war eigentlich noch nicht soweit“, sagte Whiting, „aber Wettkämpfe helfen, um wieder reinzukommen. Auch deshalb bin ich nach Neuseeland gekommen.“ Und natürlich wegen der Angeltour und der Wildschweinjagd in den Marlborough Sounds.
(Copyright: Sissi Stein-Abel)
Update September 2017:
Walsh Weltmeister
Nach diesem Saisonauftakt und meiner Einschätzung von Ryan Crousers Überflieger-Qualitäten war es schon eine kleine Überraschung, dass Tom Walsh im August in London mit einer Weite von 22,03 Metern ganz überlegen Weltmeister im Kugelstoßen wurde und Crouser mit relativ mickrigen 21,07 Metern nur auf Platz sechs landete, direkt vor Ryan Whiting (21,09). Jacko Gill (20,82) kam auf Rang neun und verpasste damit ebenso den Endkampf wie der deutsche Hoffnungsträger David Storl (Zehnter mit 20,80) - Letzterer immerhin Olympia-Zweiter von London 2012 und zweifacher Weltmeister (2011 und 2013).