27.05. Neuer Sprintstar
Tauziehen um den schnellsten Mann Down Under
10,19 Sekunden sind für einen Achtzehnjährigen absolute Weltklasse
Wie gut seine 10,19 Sekunden sind, zeigt ein Blick in die Resultate der U20-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr in Tampere: Lali Muhammad Zohri (Indonesien) gewann die 100 Meter in 10,18 vor zwei US-Amerikanern, die beide 10,22 Sekunden liefen. Der Weltrekord steht seit 2014 bei 9,97 Sekunden (Trayvon Bromell/USA).
„Die Leistung solch eines jungen Athleten ist international betrachtet etwas ganz Besonderes“, sagt Chris Donaldson, mittlerweile 44 Jahre alt und achtfacher neuseeländischer 100- und 200-Meter-Meister mit einer 100-Meter-Bestzeit von 10,17 Sekunden. Der 1,90 Meter große und 95 Kilogramm schwere Athlet sei „das größte Sprinttalent, das wir jemals hatten“. Sein derzeit noch recht langsamer Start und die Schrittlänge sind ausbaufähig. Auch mit Krafttraining hatte Osei-Nketia noch nicht viel am Hut.
Das regelmäßige Rugby-Training hat er erst einmal ad acta gelegt, er macht lediglich Übungen ohne Körperkontakt, um seine Ballfertigkeit zu erhalten. Aber der neuseeländische Verband NZ Rugby unterstützt die Ambitionen des talentierten Sportlers und behält ihn im Auge, bis er in einem oder mehreren Jahren einen Karrierewechsel in Betracht zieht – oder eben nicht.
Rugby-Ambitionen und noch schneller als Jonah Lomu
Angesichts Osei-Nketias Raketentempo drängt sich der Vergleich mit Neuseelands einstigem Rugby-Idol Jonah Lomu auf, der vor vier Jahren im Alter von nur 40 Jahren an Nierenversagen starb: Der legendäre Flügelflitzer rannte die 100 Meter in 10,8 Sekunden. Die Position wäre Osei-Nketia auf den muskulösen Leib geschneidert. „Egal, wie er sich später mal entscheidet: Wenn er schneller wird, profitieren beide Sportarten davon“, sagt Leichtathletik-Leistungssportdirektor Scott Goodman.
Um die WM-Norm von 10,10 Sekunden zu erfüllen, müsste der Jungspund den neuseeländischen Rekord brechen. Dieser steht seit 1994 bei 10,11 Sekunden. Und wie es der Zufall so will, Rekordhalter ist Edwards Vater Gus Nketia. Der gebürtige Ghanaer war nach den Commonwealth-Spielen 1990 in Auckland nach Neuseeland gezogen. Hier wuchs auch Edward auf, aber später siedelte die Familie in die australische Hauptstadt Canberra über. Erst Anfang dieses Jahres zog der Sohn in sein Geburtsland zurück, nachdem er ein Stipendium des Scots Colleges in Wellington erhalten hatte.
Kurz danach, Anfang März, gewann er bei den neuseeländischen Meisterschaften in Christchurch 100-Meter-Gold. Aber erst als er vier Wochen später, damals noch 17 Jahre jung, in Sydney zum australischen Titel stürmte, im Halbfinale 10,19 und im Finale 10,22 Sekunden rannte, wurde auch der Verband des Nachbarlandes auf ihn aufmerksam. Das Tauziehen begann.
"Es war keine schwierige Entscheidung"
Nachdem Edward Osei-Nketia seine Entscheidung im Fernsehsender Newshub bekanntgegeben hatte, ging sein 49-jähriger Vater ins Detail. „Edward wurde in Neuseeland geboren und liebt Neuseeland, deshalb war es keine schwierige Entscheidung“, sagte der fünffache neuseeländische Meister.
Die lukrativen Offerten eines neuseeländischen Rugby-Klubs, aus der australischen Rugby League (Dreizehner-Rugby) und der AFL (Australian Rules Football League), die stets auf der Suche nach sprintstarken Spielern sind, waren kein Thema. „Es dreht sich nicht immer alles nur ums Geld“, sagte Gus Nketia. „Man muss sich in einer Sportart wohlfühlen und sie muss einen glücklich machen. Wenn man nur auf das Geld schaut, erreicht man sehr schnell den Punkt, an dem man das Interesse verliert. Und das ist nur einer der Gründe für seine Entscheidung.“
Die Familienbande sind jedoch das Tüpfelchen auf dem i. „Wenn jemand meinen Rekord bricht, wäre es doch eine tolle Geschichte, wenn Edward es täte“, sagt der stolze Vater. Und wie Gus Nketia (1996), so könnte sich auch der Sohn den Traum von einer Olympia-Teilnahme erfüllen. Für Rugby wäre auch nach Tokio 2020 noch viel Zeit.
(Copyright: Sissi Stein-Abel)
Nächsten Monat wird der Meister der beiden Nachbarländer bei den Ozeanien-Titelkämpfen in Townsville (25. bis 28. Juni) für Neuseeland starten, in der Hoffnung, seine persönliche Bestzeit von 10,19 Sekunden über 100 Meter auf 10,10 Sekunden zu verbessern und sich damit direkt für die Weltmeisterschaften in Doha (28. September bis 6. Oktober) zu qualifizieren.
Sollte ihm dies gelingen, würde er seine Rugby-Karriere weiterhin auf Eis legen. Osei-Nketias Fernziel ist nämlich, für die All Blacks zu spielen, Neuseelands dreifaches Weltmeister-Team. Und das, obwohl so manch einer schon phantasiert, er könne die 100 Meter irgendwann einmal in 9,60 Sekunden rennen. Zum Vergleich: Usain Bolts Weltrekord steht bei 9,58 Sekunden. Der junge Mann selbst bleibt Realist und sagt: „Wenn ich so weitertrainiere, hoffe ich, dass ich eines Tages unter 10 Sekunden laufen kann.“ Als erster Neuseeländer.
Achtzehn Jahre jung und auf der Überholspur. Das erklärt, warum Edward Osei-Nketia am anderen Ende der Welt allen davonläuft. Und warum er sich fast zwei Monate lang zierte, sich zu binden. Aber jetzt hat der flotte Teenager Ja gesagt. Ja zum neuseeländischen Leichtathletik-Verband (Athletics NZ), der sich mit seinem australischen Pendant ein Rennen um den schnellsten Sprinter beider Nationen geliefert hatte.
Update Juni 2019
Osei-Nketia zur WM
Durch seinen 100-Meter-Sieg bei den Ozeanien-Meisterschaften in Townsville hat Edward Osei-Nketia das Ticket für die Weltmeisterschaften in Doha gelöst. Zwar blieb er in 10,34 Sekunden deutlich über der Norm von 10,10 Sekunden, aber als Kontinental-Titelträger ist er automatisch startberechtigt. Der neuseeländische Verband hatte ihn vorbehaltlich des Sieges schon Anfang des Jahres nominiert. In Townsville setzte sich Osei-Nketia im Finish gegen den 19-jährigen Australier Jake Doran (10,39) durch.