13.02. Coast to Coast
Simone Maier: Das dritte Leben und der längste Tag
Als Multisport-Profi, Triathletin und Adventure-Racerin lebt Simone Maier ihr drittes Leben. Ihr erstes Leben in ihrem Heimatort nördlich vom Bodensee geriet in der Pubertät aus den Fugen. Ausgelöst durch sexuellen Missbrauch im Kindesalter, kompensierte sie ihre Pein mit Essstörungen (Bulimie), bis sie nur noch 35 Kilogramm wog, ging drei Jahre lang durch eine Suchttherapie und war neun Monate im Krankenhaus. Die Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin hat sie nie abgeschlossen.
Das zweite, das neue Leben begann, als sie mit 18 Jahren nach Ravensburg zog und durch die Betreuung durch den dortigen Jugendhilfeverein Halt fand. „Plötzlich gingen Türen auf“, erzählt Maier, die in einem Sportgeschäft Arbeit fand, „aber ich war zehn Jahre lang rückfallgefährdet. Wenn ich jetzt depressive Verstimmungen habe, weiß ich, wie ich mit damit umgehen muss.“
Die Auswanderung nach Neuseeland war der Aufbruch in eine selbstbestimmte Welt, von der sie immer geträumt hatte. „Ich kann mir nicht vorstellen, jemals nach Deutschland zurückzukehren“, sagt sie. „Der Lebensstil hier – von Tag zu Tag zu denken und nicht groß zu planen – liegt mir. Und ich kann mich als Athletin weiterentwickeln. Man hat ja alles vor der Haustür.“
Es ist die Weltmeisterschaft der Multisportler: 2,2 km Laufen, 55 km Radfahren, 30,5 km Berglauf über Stock und Stein, 15,5 km Rad, 1,3 km Lauf, 70 km Paddeln auf dem Waimakariri River, 69,5 km auf dem Rad.
Ein paar Tage später, Rückkehr an den Ort ihres größten Triumphes, an den Strand des Küstenvororts New Brighton, mit dem großen silbernen Wanderpokal unterm Arm. Erst jetzt kommt die Müdigkeit durch. „In den Tagen danach war ich total aufgedreht“, sagt die braungebrannte Deutsche, die seit zwölf Jahren in Neuseeland lebt. „Ich begreife erst jetzt so langsam, welch riesiger Erfolg mir da gelungen ist. Weltmeister, das war ein Kindheitstraum von mir.“
Noch immer wirkt die muskulöse Schwäbin, die aus der 2.500-Einwohner-Gemeinde Wald im Kreis Sigmaringen stammt, aufgekratzt, sie lacht viel, Glückseligkeit strahlt aus ihren Augen. Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus. Der große Coup war ein hart erarbeitetes Geschenk zum 39. Geburtstag drei Tage später. Während des Fotoshootings bleiben ständig Spaziergänger stehen und fragen, wofür sie die Trophäe erhalten hat. Die Bewunderung ist ihr gewiss, denn den „Coast to Coast“ kennt hier jedes Kind.
CHRISTCHURCH. Der längste Tag dauerte für Simone Maier 12 Stunden, 56 Minuten und 36 Sekunden. Dann war sie am Ziel ihrer Träume: im dritten Anlauf Siegerin des „Coast to Coast“, einem 244 Kilometer langen Rennen in Neuseeland, das von dem Westküsten-Ort Kumara an der Tasman-See über die Südalpen an die Ostküste nach Christchurch am Pazifischen Ozean führt und als „Longest Day“ bekannt ist.
Copyright für die 3 Fotos mit Pokal: Sissi Stein-Abel
Copyright für die 3 Action-Fotos: www.marathon-photos.com
Wie sich die 1,63 Meter große und 55 Kilogramm schwere Frau als Profisportlerin durchschlägt, ist dennoch außergewöhnlich. In ihrer Wahlheimat Wanaka, am gleichnamigen See am Fuße des Mount-Aspiring-Nationalparks gelegen, hat sie kein festes Zuhause. Das alpine Skisport-Dorado ist ein extrem teures Pflaster, die Einkünfte aus ihrem Teilzeitjob als Bademeisterin und die Sieg- und Platzprämien, die sie regelmäßig kassiert, reichen zwar fürs Leben, nicht aber für ein Haus oder eine Wohnung.
„Das halbe Jahr bin ich sowieso im Ausland“, sagt sie, und das Übernachtungsproblem in den übrigen sechs Monaten löst sie mit Housesitting: Dabei wohnt man kostenlos in Unterkünften, deren Besitzer in Urlaub oder nicht das ganze Jahr vor Ort sind, und kümmert sich um Haus, Garten und Tiere.
Seit vier Jahren macht sie das zusammen mit ihrem aus Hamburg stammenden Lebensgefährten Marcel Hagener, der ebenfalls Multisport-Profi ist und mit dem sie in Team-Events an den Start geht. Auch ein, zwei Adventure Races, bei denen man mit Karte und Kompass unterwegs ist, bestreiten die beiden jedes Jahr; solche Mannschaftsrennen (vier Athleten, mindestens eine Frau) dauern bis zu sechs Tage und Nächte. Ihr Hab und Gut hat Simone Maier im Auto und in einem Wohnwagen verstaut, der auf dem Grundstück von Bekannten steht. „Ich habe keine Ersparnisse, keine Sicherheit; wir können uns nichts leisten“, sagt sie und verweist auf ihre extreme Persönlichkeit: „Ich bin ein Spieler. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Das kann so weit gehen wie im vergangenen Jahr, als sie einen Wettkampf in China unbedingt gewinnen musste, weil sie in einem Trainingslager in Australien „all mein Geld verbraten“ hatte.
Die finanzielle Unsicherheit bereitet ihr jedoch keine schlaflosen Nächte. „Ich lebe mein Leben jetzt“, sagt sie. „Wenn du ein Ziel und einen Traum hast, brauchst du keine 100.000 Dollar auf der Bank. Aber man muss bereit sein, hart dafür zu arbeiten.“ Ihre Erfolge haben ihr keine Sponsoren eingebracht: „Hier gibt dir niemand Geld, aber ich habe unheimlich viele Leute, die mich anderweitig unterstützen.“ In der sportlichen Beziehung mit ihrem Lebenspartner Marcel Hagener kommt seine clevere Planung („Da ist er Deutscher“) zum Tragen. „Er recherchiert, wie hoch das Siegpotential ist, damit Geld in die Kasse kommt“, erzählt Maier. „Ich bin eher der Typ, der ‚just for fun‘ losrennt.“
Das finanziell lohnendste Ziel ist auch in diesem Jahr China. Aus dem Triathlon – da belegte sie beim Ironman in Hawaii 2009 in der Altersklasse 25 bis 29 Jahre den dritten Platz – wird sich die Schwäbin wohl allmählich zurückziehen. „Ich habe jetzt ein gewisses Alter und werde im Schwimmen nicht mehr schneller. Aber vor allem im Kajak kann ich noch viel besser werden.“
Ihre herausragende Leistung beim „Coast to Coast“ lieferte sie mit der zweitbesten Zeit auf dem Rad; nur ein Mann war schneller. Doch der Erfolg hing am seidenen Faden. Auf einer einspurigen Brücke – krachte Simone Maier, weil sie nicht aufpasste, in einen Kleintransporter. Zum Glück holte sie sich bei der Kollision nur eine dicke Lippe und eine Prellung am Unterarm – und legte sich danach umso mehr ins Zeug, um die viermalige Siegerin Elina Ussher deutlich hinter sich zu lassen.
Die Abschürfungen unter den Armen und am Rücken sind die normalen Abnützungserscheinungen vom Paddeln – und kein Grund, am Strand von New Brighton nicht mit der Sonne um die Wette zu strahlen. Simone Maier oder: Das Leben kann schön sein, auch wenn es einen manchmal fast umbringt.
(Copyright: Sissi Stein-Abel)