05.08. Nicht ganz 100% pur

Das ganze Land zittert mit dem Milchriesen Fonterra

WELLINGTON. Grün und sauber, 100% pur, so vermarket sich Neuseeland im Tourismus. Und als genauso hundertprozentig sicher, sauber und rein preist die Lebensmittel-Industrie der Nation ihre Produkte im Ausland an, ob nun Obst, Gemüse, Milch oder Fleisch.

Doch am Wochenende sank die Stimmung der Exporteure auf den Nullpunkt. Nach einem Skandal um verunreinigtes Molkenpulver, das in Babynahrung geraten ist, fürchten die Lebensmittel-Produzenten um ihre Existenz. Und nicht nur die. Da ausgerechnet Fonterra, das Vorzeigeunternehmen des Inselstaats im Südpazifik und umsatzstärkster Milchexporteur der Welt, im Mittelpunkt der Krise steht, droht auch der Wirtschaft des Landes ein schwerer Rückschlag.

Fonterra verzeichnet 26 Prozent der neuseeländischen Exporte und 2,8 Prozent des Bruttosozialprodukts. Als direkte Folge der Panik um die verseuchte Babynahrung, den Boykott neuseeländischer Milchprodukte und Rückrufaktionen in sieben Ländern fiel nicht nur der Aktienkurs des Konzerns, sondern auch der Wechselkurs des NZ-Dollars.

Während Fonterra-Chefmanager Theo Spierings umgehend nach China – Neuseelands zweitgrößter Exportmarkt nach Australien – reiste und in Peking Schadensbegrenzung betrieb, hatte eine komplette Ministerriege das Fonterra-Management schon am Sonntag zum Rapport zitiert.

Verunreinigtes Molkenpulver in Babynahrung

Das Unternehmen sollte erklären, warum es länger als ein Jahr dauerte, bis es der Regierung meldete, dass verunreinigtes Molkenpulver in die Babynahrung der Marke „Nutricia Karicare“ geraten war. Außenhandelsminister Tim Groser sagte: „Wir hätten früher informiert werden müssen, und wir diskutieren das mit Fonterra.“

Spierings erklärte die Verzögerung damit, dass extensive Tests notwendig waren, um den exakten Bakterientyp festzustellen. „Es gibt mehr als 100 Clostridium-Stämme, und nicht alle sind in Nahrungsmitteln gefährlich.“ Sehr wohl aber das Bakterium Clostridium botulinum, das letztlich in dem Molkenpulver gefunden wurde.

Die Verunreinigung passierte offenbar im Mai 2012 in der Produktionsstätte Hautapu in der Region Waikato, wo angeblich ein Rohr nicht ordnunsgemäß sterilisiert worden war. Die Kooperative, in der rund 11.000 Milchbauern organisiert sind, bemerkte das Problem jedoch erst im März 2013.

Das Bakterium Clostridium botulinum kann Botulismus hervorrufen, das in schweren Fällen zur Muskellähmung der inneren Organe und gar zum Tod führen kann. Offenbar sind 40 Tonnen Molkenkonzentrat betroffen, aus dem 900 Tonnen Nahrungsmittel hergestellt wurden, neben Babynahrung auch noch Joghurt, Sport- und Proteingetränke. Außenhandelsminister Groser sagte angesichts des weltweiten Aufruhrs: „Es wäre naiv zu glauben, dass wir mit einem blauen Auge davonkommen.“ In Saudi-Arabien lautete eine reißerische Schlagzeile: „Neuseeländische Milch bringt Kinder in Saudi-Arabien um.“

Die Panik in China ist verständlich

Nach dem Bekanntwerden der Nachricht ordnete China, Neuseelands zweitgrößter Exportmarkt nach Australien, den sofortigen Rückruf sämtlicher neuseeländischen Milchpulver-Produkte an.

Die anderen betroffenen Länder sind – außer Neuseeland selbst – Australien, Saudi-Arabien, Malaysia, Vietnam, Thailand und Russland, das gar den Bann sämtlicher Milchprodukte aus Neuseeland anordnete, obwohl zum Beispiel Butter oder ultrahocherhitzte Milch überhaupt kein Molkenpulver enthält. Molke ist die trübe Restflüssigkeit, die bei der Käseproduktion entsteht.

Die Panik in China ist verständlich, denn im September 2008 starben sechs Babys an Nierenversagen und tausende erkrankten, nachdem sie monatelang mit gepanschtem Milchpulver gefüttert worden waren.

Damals hatten Lieferanten des Produzenten Sanlu und von mehr als zwanzig weiteren Molkerien Milch mit Wasser verdünnt und dann mit der Chemikalie Melamin versetzt, um einen höheren Proteingehalt der Flüssigkeit vorzutäuschen. Fonterra hatte sich mit 43 Prozent bei Sanlu eingekauft, wollte aber mit dem ganzen Giftmischerskandal nichts zu tun haben, weil er als Minderheitseigner völlig desinformiert war und nichts zu melden hatte.

"Die Fonterra-Krise betrifft uns alle"

Die nächste China-Krise folgte im vergangenen Jahr, als Fonterra in einigen Produkten Rückstände des Düngemittels DCD entdeckte. Regierung und Fonterra versicherten der Öffentlichkeit, die Konzentration sei so gering, dass keine Gesundheitsgefahr für Konsumenten bestehe. Zusammen hatten sie versucht, die Veröffentlichung der Nachricht in den Medien zu verhindern.

Kaum war Gras über diese Sache gewachsen, ist Fonterra nun schon wieder im Gerede, und mit dem Milchriesen – unverschuldet - die gesamte Branche der Nation. „Die Fonterra-Krise betrifft uns alle, denn sie ruiniert den guten Ruf, den unser Land in punkto Sicherheit und Reinheit von Lebensmitteln genießt“, so die Befürchtung anderer vom Außenhandel abhängiger Firmen.

Ganz besonders bekamen den Aufruhr kleinere Unternehmen zu spüren, die mit Fonterra überhaupt nichts zu tun haben und nicht über die finanziellen Reserven des Milchriesen verfügen, um die Krise auszusitzen. Die Land- und Milchwirtschaft sind Neuseelands Exportschlager (rund 38 Milliarden NZ-Dollar im Jahr 2012 = 22 Milliarden Euro). Fonterra verkauft 95 Prozent der in der Heimat produzierten Milch als Pulver ins Ausland. In guten Zeiten.

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Neuseeland und Fonterra, Fonterra und Neuseeland

AUCKLAND. Selbst wenn er wollte, würde es Theo Spierings schwerfallen, sich zu verstecken. Der Niederländer, der seit 2011 den neuseeländischen Milchkonzern Fonterra leitet, misst 1,96 Meter und überragt die meisten Mitmenschen.

Seit vor ein paar Tagen der Skandal um verseuchte Babynahrung publik geworden ist, fällt der 49 Jahre alte Topmanager doppelt auf, denn er steht an sämtlichen Fronten Rede und Antwort, um für den weltgrößten Milchexporteur zu retten, was zu retten ist: den Ruf der neuseeländischen Lebensmittel-Industrie im Allgemeinen und der Milchbranche im Besonderen, das Ansehen von Fonterra, das seit dem Melamin-Skandal vor fünf Jahren in China seinen Marktanteil verdreifacht hatte, das Vertrauen der Regierung, die um die Umsätze des größten Unternehmens der Nation fürchtet, und natürlich auch der Verbraucher im eigenen Land.

Letztere trugen gestern ganze Berge „Nutricia Karicare“-Babynahrung in die Supermärkte zurück, auch jene, die nicht mit dem bakterienverseuchten Molkenkonzentrat belastet ist, das Botulismus (Muskellähmung der inneren Organe) auslösen kann.

Neue Offenheit mit dem neuen Chef - oder doch nicht?

Bei seinem Amtsantritt vor zwei Jahren hatte Spierings neue Offenheit versprochen. Das hatte neben extremen Sparmaßnahmen und der Eroberung neuer Märkte – nach der Zuschauerrolle 2008 beim Milchpanscher-Drama in China - oberste Priorität.

Damals hatte Fonterra, das als Minderheitseigner des Sanlu-Konzerns desinformiert und desinteressiert war, geschwiegen, bis die ersten Babys starben. Das geschah noch unter der Ägide des leisen Kanadiers Andrew Ferrier, der Spierings als neuen Chef ins Gespräch und ins Geschäft brachte.

Obwohl der zugänglich und freundlich wirkende Holländer bei öffentlichen Auftritten Stärke und Klarheit ausstrahlt, hat sich an der Informationspolitik des Unternehmens jedoch nichts geändert.

Die Heimlichtuer der Nation

Im vergangenen Jahr verheimlichte Fonterra, das weltweit 17.000 Mitarbeiter beschäftigt, den Fund geringer Spuren eines Düngemittels in einigen Produkten. Und im neuesten Fall hielt es mehr als ein Jahr lang niemand für nötig, die Regierung zu informieren und die Verbraucher zu warnen, obwohl bereits im Mai 2012 eine Verunreinigung festgestellt wurde. Die Ausrede: Es hätte sich ja auch um einen harmlosen Bakterienstamm handeln können.

Die einfachste Formel für den Erfolg oder Misserfolg der neuseeländischen Wirtschaft lautet: Geht es Fonterra gut, hat das Land nichts zu befürchten; hat Fonterra Probleme, geht es mit der Wirtschaft bergab.

"So ähnlich wie Trainer der niederländischen Fußball-Nationalmannschaft"

Das hat Theo Spierings, der in einer Heimat bis 2009 das Fonterra-Pendant Royal FrieslandCampina leitete, erst mit leichter Verzögerung erkannt. „Nirgendwo sind eine Nation und ein Wirtschaftsunternehmen derart eng verwoben wie hier“, sagte der einstige Hobby-Rugbyspieler in einem Interview. „Fonterra-Chef zu sein, ist so ähnlich, wie die niederländische Fußball-Nationalmannschaft zu trainieren. Jeder schaut zu, jeder hat eine Meinung, und jeder weiß es besser. Wenn die Europameisterschaft läuft, gibt es nichts Wichtigeres für einen Holländer.“

Für Fonterra und den Friesen Theo Spierings steht der inoffizielle Titel des Milchexport-Weltmeisters auf dem Spiel. Und der Wohlstand einer ganzen Nation.

Copyright: Sissi Stein-Abel

Update November 2013

Viel Lärm um Nichts

Dieser Titel stimmt nur in Bezug auf das glückliche Ende der Botulismus-Gefahr. Denn hier stellte sich heraus, dass es sich bei den gefundenen Bakterien im Milchpulver doch nicht um den gefürchteten Erreger handelte. Also blinder Alarm, Friede, Freude, Eierkuchen? Von wegen!

In zwei Untersuchungsberichten wurde - trotz freundlicher Einstellung gegenüber Fonterra - notiert, dass das Unternehmen 21!!! Gelegenheiten verpasste, um die Saga schneller zu beenden. Aber jedes Mal wurde die falsche oder keine Entscheidung getroffen, weil unerwartete Ereignisse im Handbuch des Handelns bei Fonterra nicht vorkommen.

Am unfassbarsten ist die Enthüllung, dass derfür die Milchverarbeitung zuständige Fonterra-Arm NZ Milk Products drei Wochen lang mit dem Labor AgResearch über die Kosten der Milchpulver-Analyse verhandelte, die letztlich das falsche Ergebnis brachte und die halbe Welt in Aufruhr versetzte. Es ging dabei um sagenhafte 7500 NZ-Dollar! Nasenwasser!

Welch ein Chaos-Unternehmen!

Der Fall ist noch längst nicht abgeschlossen. Danone denkt laut darüber nach, ob er Fonterra auf Schadenersatz verklagt. Der französische Multi sagt, er habe durch die Rückruf-Aktion 500 Millionen NZ-Dollar Verlust gemacht.

Übrigens: Der Vorfall, der das 18-monatige Chaos auslöste, ereignete sich am 2. Februar 2012, als eine Taschenlampe - was immer das Wort "torch" in diesem Zusammenhang bedeutet - in eine Maschine fiel, in der das Molkenpulver hergestellt wurde. Das Glas zerbrach, aber nicht alle Stücke wurde aus dem Molkenkonzentrat entfernt. Kleine Ursache, große Wirkung.