22.02. Das Leben heute

Die neue Normalität im Niemandsland: Menschen in Bruchbuden werden zum Spielball der Versicherungen

Copyright: Sissi Stein-Abel

CHRISTCHURCH. Die grüne Wand hinter dem Ledersofa ist keine Design-Idee aus „Schöner Wohnen“, genauso wenig wie die eigenwillige Mischung aus vertikalen und horizontalen weißen Bahnen rund um die Fenster.

Es sind die schmucklosen Papier-Oberflächen neuer Sperrholz- und Rigipsplatten, die auf die Holzrahmen des Wohnzimmers genagelt wurden, damit Lewis und Rebecca Little mit ihren drei Söhnen Jesse (20), Ricky (11) und Jonny (9) nach dem Erdbeben, das am 22. Februar 2011 weite Teile der neuseeländischen Stadt Christchurch zerstörte, von der Garage in ihr schiefes Wetterschenkel-Holzhaus zurückziehen konnten. Der Patchwork-Look wird ergänzt von beigefarbenem Bauschaum, der die breiten Risse in den Wänden füllt.

Zwei Jahre sind seit der Naturkatastrophe verstrichen, der ein noch heftigerer, aber 50 Kilometer von der Stadt zentrierter Schüttler (7,1 auf der Richterskala) vorausgegangen war. Aber an der Situation der Littles, die in Linwood, einem der schwer getroffenen östlichen Ortsteile, wohnen, hat sich nicht viel geändert.

Ihr hübsches weißes Haus, das sie vor der Erdbeben-Serie renoviert hatten, um es mit Gewinn zu verkaufen und in ein besseres Viertel zu ziehen, ist ein zugiges Wrack. „Im Winter ist es eisig, der neue Heizer wärmt nur das eine Zimmer, in dem wir uns tagsüber aufhalten“, sagt die Altenpflegerin. „Die Kinder sind jede Woche krank.“

Das Februar-Desaster mit 185 Toten, das zweite in einer Serie von vier fürchterlichen Beben zwischen dem 4. September 2010 und 23. Dezember 2011, wölbte die Mitte des Hauses nach oben und riss die Wände entzwei.

Wenn jetzt draußen in der Buckleys Road ein schwerer Lastwagen vorbeidonnert, flackern die Lichter, manchmal schaltet sich sogar der Fernseher aus. Wenn der kleine Schnauzer-Welpe in der oberen Etage über den Boden trippelt, wackelt die Decke.

Schon vor dem Dezember-Beben schätzte die Versicherung den Schaden am Haus auf 290.147 NZ-Dollar (183.000 Euro). „Ich rufe jede Woche an und frage, wie’s weitergeht“, erzählt Rebecca, deren Leben in der Garage nur deshalb nach fünf Wochen endete, weil ihr Arbeitgeber seine Ingenieure schickte und dann die strukturellen Schäden kostenlos behob – nicht etwa, weil das staatliche Notreparatur-Programm gezogen hätte. Andernorts leben Leute noch immer in Garagen und Wohnwagen, manche sogar in Autos. Wohnraum ist knapp, und Mietwucher ist so normal, wie in notdürftig zusammengenagelten und mit Plastikplanen abgedeckten eisigen Bruchbuden zu hausen.

Aber wie in so vielen Fällen – genauer: in einem von drei - können sich die staatliche Versicherung EQC, die für Schäden bis 100.000 NZ-Dollar aufkommt, und die Privatversicherung, die den Rest deckt, nicht einigen, ob das Haus repariert oder abgerissen und neu aufgebaut wird und wer was bezahlt. Und wann.

Bis dahin sind die zum Stillstand verdammt. Seit zwei Jahren können sie nicht umziehen, ihre Kinder auf andere Schule schicken, ihr Leben planen. Joy Genet, deren Haus in Ferrymead massiv beschädigt wurde, hat seit einigen Tagen Klarheit: „Sie haben mir mitgeteilt, dass die Reparaturen Anfang 2014 beginnen.“ Drei Jahre nach dem großem Rumpler. Fünf Jahre sind für die Arbeiten veranschlagt.

Von rund 100.000 beschädigten Häusern sind erst rund 32.000 gerichtet. Aber erst kommen die billigeren Reparaturen dran – doch auch hier kommt’s zu endlosen Verzögerungen, weil das Personal bei Fletcher EQR, dem staatlichen Reparaturprogramm, das vom größten Bauunternehmen Neuseelands gemanagt wird, mit der Aufgabe überfordert ist.

Risse im windschiefen Wetterschenkel-Holzhaus: Rebecca Little an einer Wand mit relativ geringen Schäden...

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Zwei Jahre später

Bild links:

Kommerzielles Gebäude in der Manchester Street.

Die abgesperrte High Street.

Menschenleere Abrisswüste.

Was wird aus der Anglikanischen Kathedrale?

Foto links:

"185 Empty Chairs" - Erinnerung an die 185 Toten des Februar-Erdbebens in der Madras Street.

Immer mehr Baulücken in der Locksley Avenue - bis irgendwann kein Haus mehr hier am Ufer des Avon steht.

Die Stadtverwaltung sagt, es wird noch bis 2018 dauern, bis die geborstenen Wasser- und Abwasserleitungen sowie die Straßen wieder in Ordnung sind. Autofahrten durch den von der berüchtigten Untergrund-Verflüssigung getroffenen Osten fühlen sich an wie Wellenreiten auf einem Schlagloch-Slalomkurs. Wo gestern noch freie Fahrt war, ist heute eine von täglich hundert Baustellen.

Im menschenleeren und gebäudearmen Stadtzentrum erzählt Erdbeben-Minister Gerry Brownlee einer versammelten internationalen Journalistenschar stolz, dass EQC 4,2 Milliarden NZ-Dollar (2,6 Mio. Euro) für zerstörten Hausrat ausgezahlt hat und dass die Reparatur der Infrastruktur täglich 1,5 Millionen kostet.

Und er sagt, dass die Regierung und ihre neuen und mit diktatorischer Allmacht ausgestatteten Behörden CERA, CCDU und wie sie alle heißen, die Basis dafür gelegt hätten, um Christchurch in „die beste kleine Stadt der Welt“ zu verwandeln.

Der gewichtige Politiker erklärt, dass das eingezäunte Brachland rund um die Anglikanische Kathedrale von ursprünglich 387 auf 38 Hektar geschrumpft ist und ab sofort nicht mehr „Red Zone“ (Sperrgebiet), sondern „Rebuild Zone“ (Wiederaufbaugebiet) heißt – ungeachtet der Tatsache, dass noch immer mehr abgerissen als aufgebaut wird. Die von Soldaten bewachten Absperrgitter sollen bis Mitte des Jahres verschwinden.

Das ändert vorerst nichts an den schockierenden Aus- und Anblicken. „Es ist schlimmer, als man sich vorstellen kann“, sagt eine deutsche Urlauberin. „Man muss es tatsächlich sehen, um zu begreifen, welche Zerstörungskraft und welche Folgen so ein Erdbeben hat.“

Dort, wo einst Einheimische und Touristen umherwuselten, weil sich in der City Bürohochhäuser, Cafés, Restaurants, Läden und historische Prachtbauten befanden, ist ein totenstilles Niemandsland entstanden, eine weite Abrisswüste aus Schutt, Sand und Unkraut – aber natürlich auch ein Freiraum, der die Umsetzung visionärer Ideen ermöglicht.

Die meisten Kernprojekte des Rohentwurfs – vom Tagungszentrum über den Gesundheits- und Innovationsbezirk bis hin zum Kulturviertel sind noch immer in der Planungsphase, die Aufträge noch nicht vergeben. Der Konstruktionsbeginn wird sich noch ein weiteres Jahr hinziehen.

Um eine L-förmige Grünzone im Süden und Osten zu schaffen, muss die Regierung erst einmal das Land akquirieren. Wer nicht mitspielt, wird enteignet. Lediglich die Arbeit am fußgänger- und radfahrerfreundlichen Avon River Park, der sich an dem nicht mehr bebaubaren, instabilen Ufer des Avon entlangziehen wird, kann demnächst beginnen.

Was aus der Kathedrale, dem Wahrzeichen der Stadt, wird, steht noch in den Sternen. Die Regierung hat nach massiven Protesten der kontrovers diskutierenden Bevölkerung einen Abrissstopp verfügt, nachdem die Anglikanische Kirche den Turm nach Vandalenart hatte zertrümmern lassen und das Ganze „Dekonstruktion“ nannte.

Internationale Experten sagen unisono, dass die Kathedrale reparabel ist. Die (kanadische) Bischöfin Victoria Matthews würde das Gotteshaus jedoch am liebsten plattmachen. Ein Stahlgerüst stützt die kaum mehr vorhandene Westfassade, das gemusterte Dach des Kirchenschiffs ist nahezu unbeschädigt, obwohl das neugotische Bauwerk lieblos dem Verfall preisgegeben worden ist.

Als Ersatz dafür soll Ende März oder im April die temporäre Pappkathedrale in der Madras Street fertig sein. Allerdings wird die toblerone-förmige Box aus mehr Holz und Stahl bestehen als aus Pappe, weil der Plan des japanischen Architekten Shigeru Ban mehr design- als realitätsorientiert war. Dann wird auch die New Regent Street mit ihren pastellfarbenen Spanischen-Kolonialstil-Häuschen im alten Glanz erstrahlen.

Bis dahin erfreuen sich die Touristen an der aus bunten Schiffscontainern bestehenden Einkaufsmeile, der Re:Start Mall, am grandiosen Botanischen Garten, dem Canterbury-Museum, dem Internationalen Antarktis-Zentrum, den fabelhaften Tierparks, den tollen Stränden, den Ausflügen auf die spektakuläre Banks-Halbinsel, kleinen Container-Cafés und den Farbklecksen des Gapfiller-Programms - das sind rührende bis witzige Lückenfüller-Projekte in den unzähligen Baulücken.

In der Container-Mall hat das Museum vor einigen Tagen eine Erdbeben-Ausstellung namens „Quake City“ eröffnet, die Relikte der zerstörten Stadt, die Geschichte(n) und Phänomene der Katastrophe präsentiert.

Nach mehr als 11.000 Beben in zweieinhalb Jahren haben die Frequenz und die Stärke der Erschütterungen erheblich nachgelassen – mit der Folge, dass man jetzt selbst bei schwächeren Erdstößen, die man früher locker aussaß, erschrickt.

Trotz der Trauer um die verlorenen Schätze ist Christchurch längst wieder eine Reise wert; mehrere Hotels in der City stehen vor der Wiedereröffnung. Man muss allerdings wissen, wohin man gehen muss, denn das Geschäfts- und Nachtleben hat sich in die Vororte Riccarton, Merivale und Addington verlagert.

Andere Vororte oder ganze Straßenzüge in Wassernähe, ob nun auf dem Schwemmland der Küste oder an den instabilen Ufern des Avon, werden komplett abgerissen und nie wieder bebaut. 7207 Grundstücke in diesen nicht-kommerziellen „Red Zones“ fallen in diese Kategorie. Die Regierung hat die Besitzer mit dem Marktwert von 2010 entschädigt – was für den Erwerb eines neuen Hauses oft nicht reicht - und dafür eine Milliarde NZ-Dollar (632 Mio. Euro) investiert.

Irgendwann, wenn die Leute ausgezogen sind, geht ein Bauzaun hoch. Das interpretieren Diebe und Plünderer als Zeichen dafür, alles zu stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist – inklusive Teppichböden, Wasserleitungen und Heizkessel. Graffiti-Schmierer sprayen unansehnliches Geschreibsel auf die Fenster, Türen und Fassaden. Dann rollen die Abriss-Crews an. So sind die einst so idyllischen Uferstraßen in Dallington eine unkrautüberwucherte Wildnis geworden.

In der Locksley Avenue wohnt kein Mensch mehr, jedes dritte Haus fehlt. Jene, die noch stehen, sinken immer tiefer in den sandigen Untergrund. Weiter im Westen in der River Road harren noch einige wenige Menschen aus, die sich vor den Eindringlingen fürchten und ständig die Polizei rufen.

„Um zwei oder drei Uhr nachts hört man, wie Regenrinnen abmontiert werden“, sagt David Tattle in einem Fernseh-Interview. „Tagsüber kommen Leute mit Schaufeln und Schubkarren und diskutieren, welche Bäume und Pflanzen sie mitnehmen. Ich gehe dann raus und sage: ‚Tut mir leid, aber ich wohne noch hier‘. Das passiert ständig. Wir waren mal eine malerische Gegend, jetzt sind wir ein Ghetto.“

Hier wie auch in verlassenen Gebäuden im Stadtzentrum legen Brandstiftler alle paar Tage ein Feuer. „Arson City“ nannte die Tageszeitung The Press die als „Garden City“ bekannte größte Stadt der Südinsel Neuseelands. Die Stadt der Pyromanen. Auch in der River Road brannte es in der vergangenen Woche. Es ist Teil der neuen Normalität. Das, was sie hier „The new Normal“ nennen.