07.12. Masern in Samoa

Kindersterben führt zur Impfpflicht über Nacht

CHRISTCHURCH/APIA. Ein roter Lappen an einem Besenstiel im Gebüsch, ein rotes Band am Stamm einer Kokospalme, ein zwischen zwei Rundpfosten gespannter roter Pareo: All das war kein Weihnachtsschmuck, und die Kindergesichter strahlten nicht fröhlich, so wie sonst, wenn man Urlaub auf Upolu, der Hauptinsel von Samoa, macht.

Kranke Kinder ohne Lebenskraft, verängstigte Augen und dann ein herzzerreißender Tränenausbruch, wenn die Nadel in den Oberarm piekste. Zwangsimpfung im tropischen Paradies. Die roten Bänder, Tücher und Lappen, sie markierten die Häuser von Familien, die nicht gegen Masern immunisiert waren, als Premierminister Tuilaepa Aiono Sailele Malielegaoi Anfang Dezember den Ausnahmezustand verhängte, um das Massensterben der Kinder in seinem Staat zu stoppen.

Die ehemalige deutsche Kolonie Deutsch-, später West-Samoa, fast 16.000 Kilometer vom ehemaligen Mutterland entfernt, bietet seit Ende Oktober, als eine katastrophale Masern-Epidemie ausbrach, Anschauungsunterricht darüber, was passiert, wenn die Immunisierungsquote im Kampf gegen ansteckende Krankheiten auf ein gefährlich niedriges Niveau sinkt.

Von den rund 200.000 Einwohnern sind bis heute 5371 an Masern erkrankt, 76 Personen sind gestorben, darunter 64 Kinder unter vier Jahren. Es gibt eine Familie, die drei ihrer fünf Kinder verloren hat. Doch das Schlimmste scheint überstanden, es gibt jetzt Tage ohne Todesfälle und immer weniger neue Fälle. 94 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, seit der Regierungschef über die Nacht die Impfpflicht einführte. Vor dem Beginn der Krise waren es 31 Prozent, nachdem die Quote 2018 nach Schätzung des Weltkinderhilfswerks UNICEF von 74 auf 34 Prozent gesunken war.

Dramatische Entwicklung durch Fehlinformationen von Impfgegnern

Diese dramatische Entwicklung ist auf die Fehlinformation durch Impfgegner – auf Englisch: Anti-Vaxxers – in den sozialen Medien zurückzuführen. 2018 starben zwei Babys kurz nach ihren Masernimpfungen - allerdings nicht, weil sie nach der Impfung an Masern erkrankt wären, sondern weil zwei Krankenschwestern das Serum mit einem abgelaufenen Narkosemittel statt der korrekten Flüssigkeit gemischt hatten.

Wenig hilfreich war auch der Besuch von Robert Kennedy jr., der sich auf Samoa mit anderen Anti-Vaxxern traf und die Botschaft von der Gefährlichkeit von Impfungen verbreitete. Solche Kampagnen fallen im Samoa auf fruchtbaren Boden, weil viele Menschen an die Kraft von Wunderheilern glauben. So traf ein Reporter des neuseeländischen TV-Senders Newshub auf einen dieser Scharlatane, der einen an Masern erkrankten und halb bewusstlosen Jugendlichen mit alkalischem Kangen-Wasser überschüttete und massierte, um ihn innerlich zu reinigen, anstatt ihn ins ein Hospital zu schicken.

Solchen Hokuspokus dulden die Behörden nicht mehr. Erst traf die Polizei ein, dann ein Krankenwagen. Ein anderer Heiler und bekannter Impfgegner, der Masern mit Vitaminen und Pflanzen behandelt, wurde wegen Volksverhetzung festgenommen, als er die Massenimpfung „eine Mordserie“ nannte und in Richtung Regierung tönte: „Ich bin da, um Eure Sauerei aufzuwischen.“

Notstand und Ausgangssperre machen Apia zur Geisterstadt

Das war, als der Premier den nun bis 29. Dezember verlängerten Notstand ausrief, eine Ausgangssperre verhängte, öffentliche Veranstaltungen verbot, die Massenimpfung anordnete und laut darüber nachdachte, Eltern zu bestrafen, die ihre Kinder nicht impfen lassen. Zwei Tage lang, am 5. und 6. Dezember, wurde die Hauptstadt Apia zur Geisterstadt. Sämtliche Behörden schlossen, die Beamten wurden zum Impfdienst abberufen.

Die einzigen Fahrzeuge, die auf den apokalyptisch anmutenden leeren Straßen erlaubt waren, beförderten die 120 Impftrupps, die kreuz und quer über Upolu fuhren, an jedem mit roten Stofffetzen markierten Fale – das sind die wandlosen, offenen Häuser in den ländlichen Gegenden von Samoa – anhielten und tausende Menschen gegen Masern impften. Auf dem Krankenhaus-Parkplatz in Apia wurde ein Großzelt aufgestellt, um dem Ansturm der in Panik geratenen Leute Herr zu werden.

Ohne Hilfe von außen wäre all dies unmöglich gewesen: Die UNICEF schickte 110.500 Impfdosen nach Samoa; medizinisches Personal aus Australien, Neuseeland, Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern ist noch immer vor Ort, um die Krise zu meistern. Der Premierminister brach sogar ein Tabu in diesem extrem religiösen Land und sprach über Sex, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen: Er forderte seine Landsleute auf, nach einer Masernimpfung vier Wochen Enthaltsamkeit zu üben, „damit in dieser Zeit gezeugte Babys nicht blind zur Welt kommen“.

Mittlerweile wurde bestätigt, dass die Masern in Samoa aus Neuseeland eingeschleppt wurden. Dort leben rund 150.000 Samoaner, die regelmäßig zwischen den Ländern hin- und herfliegen. Neuseeland hatte in diesem Jahr 2161 Fälle, darunter mehr als 1700 in den ärmeren südlichen Stadtteilen von Auckland, wo viele Menschen von den pazifischen Inseln leben. Auch Tonga und Fidschi haben wegen der Masern den Notstand ausgerufen.

Masern-Infos

    • 1891 und 1893 hatte Samoa schon einmal Masern-Epidemien. Dabei starben mindestens 1200 von damals 34.000 Einwohnern. 50 Prozent der Toten waren Erwachsene.

    • Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass 2018 fast 10 Millionen Menschen weltweit an Masern erkrankten und 140.000 Menschen, vornehmlich Kinder, daran starben. Das Bild für 2019 sei noch dramatischer. Gegenüber dem Vorjahr sei die Zahl der Infektionen (bis einschließlich November) um das Dreifache gestiegen. In Europa infizierten sich im vergangenen Jahr 82.596 Menschen mit Masern, und 72 Personen starben an der Viruserkrankung. Nur sechs von 53 Ländern waren frei von Masern.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)