17.05. Brotschmiererei

Marmite-Krise oder: Womit der Mensch so aufwächst

Für leidgeprüfte Marmite-Hasser wie mich, die ihren Kiwi-Partner beim Frühstück einfach nicht riechen können - und für Marmite-liebende Deutsche wie Thomas St. aus Frankfurt/Main und Margarete K. aus Ulm. Ja, es gibt wirklich welche!

Kinder im Supermarkt – und keines quengelt, brüllt oder tobt. Ein Wunder? Nein, es ist Weihnachten mitten im Jahr, das kleine Mädchen und Jungen in geduldige Engel verwandelt hat. Die Mütter und Großmütter, die Teenager in ihren Schuluniformen, der Maler im verklecksten Overall, der Anwalt im Nadelstreifenanzug, alle sind von der festlichen Stimmung erfasst.

Die Vorfreude auf die Bescherung passt zur Jahreszeit. Am anderen Ende der Welt beginnt der Winter, die Bergketten der Südalpen am Horizont sind schneebedeckt.

Die Leute in Merivale, einem Stadtteil der neuseeländischen Erdbeben-Stadt Christchurch, warten aber nicht unter blinkenden Sternen oder brennenden Tannenbaumkerzen und schon gar nicht auf den Weihnachtsmann. Sie stehen in einem Supermarkt Schlange, um eines von 150 Gläsern Marmite zu ergattern und sind wie die junge Mutter Sarah Bennett bereit, „eine Menge“ für den heißgeliebten Brotaufstrich zu bezahlen.

„Fresh Choice“-Besitzer Craig Grant hat einen Geheimvorrat von 900 Gläsern der konzentrierten vegetarischen Würzpaste und stiftet sie jetzt etappenweise für einen guten Zweck. Der Erlös für die von drei Fernsehkameras verfolgte erste Einkaufswagenladung, die mit großer roter Weihnachtsschleife anrollt, ist für das lokale Frauenhaus.

Das corpus delicti.

Die Marmite-Süchtigen müssen mindestens fünf NZ-Dollar (drei Euro) geben – das ist zwei bis drei Dollar weniger, als so ein 500-Gramm-Glas üblicherweise kostet. Manche sind so froh über das Ende des Frühstücksfrusts, dass sie zwanzig Dollar in den Spendentopf stecken. Auf dem nationalen Internet-Handelsplatz TradeMe hat ein Halsabschneider 800 NZ-Dollar verlangt. Derzeit sind 124 Gläser zu weitaus akzeptableren Preisen gelistet. Vielerorts herrscht Verzweiflung pur.

In Neuseeland herrscht nämlich die Marmite-Krise, weil die Produktionsstätte – die einzige im ganzen Land – im vergangenen November wegen Erdbebenschäden geschlossen werden musste und vermutlich erst wieder im Juli in Betrieb gehen kann. Mitte März waren die Vorräte erschöpft, und kurz danach blieben auch die Supermarkt-Regale leer. Das war für viele eine nationale Katastrophe, denn gleich nach der Muttermilch werden Kiwi-Kinder auf das Vitamin-B-reiche Marmite konditioniert.

Das englische Original, seit 1902 im Handel, hat keinen Stand am anderen Ende der Welt, weil es anders schmeckt, und die australische Version Vegemite essen viele nur widerwillig, auch wenn tolerante Naturen versichern, sie könnten keinen Unterschied zwischen Marmite und Vegemite erkennen. Alle Varianten sind Nebenprodukte des Bierbrauens und werden nach einem Verfahren hergestellt, das der deutsche Chemiker Justus von Liebig im 19. Jahrhundert entdeckte.

Das in braune Plastikgläser mit roten Deckeln und gelbem Schriftzug gefüllte Marmite ist seit 1919 das schwarze Gold auf Neuseelands Frühstückstischen, ein Brotaufstrich, den die Einwanderer aus nicht-englischspachigen Ländern für eine typisch englische Geschmacksverirrung halten. Es sieht aus wie Wagenschmiere, riecht so penetrant wie feuchte Hefe und schmeckt ungefähr so lecker wie ein Mundvoll Maggi-Würze.

Millie Slater.

Aber so denken natürlich nur Hereingeschmeckte, die mit der Delikatesse, die auch in Suppen, Eintöpfe und Schmorgerichte gerührt wird, nicht aufgewachsen sind. „Am leckersten ist es ganz dünn auf warmen Toast geschmiert“, sagt Rentnerin Robinette Mihalski und erntet begeisterte Zustimmung ihrer Tochter Nicola Matthews (auf dem Foto links und in der Mitte), die ebenfalls ein 500-Gramm-Glas ergattert hat. Ihre Vorräte sind gerade zur Neige gegangen, und sie hat sich mit Vegemite und Erdnussbutter auf dem Toast über die Runden gerettet.

Suzanne Slater ist mit ihrer dreijährigen Tochter Millie aus dem sieben Kilometer entfernten Stadtteil Somerfield gekommen, „weil das letzte Glas leer ist und bei uns jetzt die Krise ausgebrochen wäre, denn Millie ist verrückt nach Marmite auf Toast“.

Die sechsjährige Scarlett Noble aus dem dreizehn Kilometer entfernten Vorort Parklands ergattert nach 24 Minuten den letzten Topf des Tages und vollführt Freudensprünge und stößt Jubelschreie aus (siehe Foto). Weihnachten im Mai. Mit einem Glas Marmite ist für Neuseeländer die Welt in Ordnung.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)

Supermarkt-Besitzer Craig Grant und die Marmite-Ladung.