23.11. Hauptstadt in Gefahr

Ungläubiges Staunen über die Schäden in Wellington

Während die Regierung in Christchurch den Ausnahmezustand verhängte und alle Entscheidungen traf, bleibt die Machtbefugnis in Wellington in den Händen der Stadtverwaltung. Allerdings kündigte Städtebau-Minister Nick Smith angesichts er Zerstörung des Statistics-NZ-Baus eine zentrale Untersuchung zum Zustand und Verhalten der Hauptstadt-Gebäude an.

Der CentrePort als Schwächezone

Dieser Komplex steht am CentrePort, das ist ein dem Meer abgerungenes Stück Land, das mittels Bodenverdichtung vor der Bebauung ganz offenbar nicht ausreichend stabilisiert wurde, um größeren Erschütterungen standzuhalten, und der erbärmliche Zustand der Struktur lässt Architekten- und/oder Handwerkerpfusch befürchten.

Im Nationalmuseum Te Papa kann jeder Besucher besichtigen, wie das Gebäude dank seiner 135 mit Stahl und Bleipfeilern verstärkten Gummipuffer in den Fundamenten auch einem schweren Erdbeben standhalten kann. Bei Führungen im Parlamentsgebäude ist zu sehen, dass das Bauwerk 1992 mit Gummipuffern nachgerüstet wurde.

Der Arbeitsplatz der Politiker Neuseelands inklusive dem „Beehive“, in dem der Premierminister und einige Ministerien zu Hause sind, liegt direkt über diesem Landstreifen, der bis zum Wairarapa-Erdbeben 1855 Meer war.

Wo die Einkaufsmeile verläuft, war früher die Küste

Diese Naturkatastrophe, mit der Stärke 8,2 das heftigste jemals in Neuseeland registrierte Beben, trug zur Erweiterung der Hauptstadt um mehr als 155 Hektar bei, denn es hob die Bucht im Nordwesten um bis zu eineinhalb Meter an und schuf ein Sumpfgebiet, das für die Schifffahrt nicht mehr geeignet war. Folglich wurde auch dieses Areal aufgeschüttet und bebaut. Wo heute die Einkaufsmeile Lambton Quay verläuft, war früher die Küste.

Unter dem Eindruck der Schäden von 1855 wurde in Wellington vornehmlich mit Holz gebaut, doch mit der Zeit verblassten die Erinnerungen, mehr und mehr löste Stein das Holz als Baumaterial ab. Entsprechend immens waren die Schäden nach den nächsten Erdbeben in der Region Wairarapa 1942, einer Doublette der Stärke 7,2 und 6,8 (fünf Wochen später).

Die große Frage jetzt ist natürlich, ob und was die Wellingtonians aus diesen Katastrophen gelernt haben. Ob die Stadt nicht fahrlässig mit dem Leben seiner Einwohner spielt, indem sie Immobilienbesitzern eine sieben- beziehungsweise zehnjährige Karenzzeit eingeräumt hat, um erdbebengefährdete Gebäude nachzurüsten und auf den geforderten Sicherheitsstandard zu bringen.

Diese großzügige Frist kritisiert Ann Brower. „Diese Selbstgefälligkeit kann Menschenleben kosten, deshalb müsste man das Geschäftszentrum komplett sperren“, sagt die Universtitätsdozentin. Brower weiß, wovon sie spricht. Sie saß im Februar 2011 in Christchurch in einem Bus, der von herabfallenden Ziegelsteinen und Mauerwerk zerschmettert wurde. Zwölf Passagiere starben, sie war die einzige Überlebende.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)

Teile der Hauptstadt sind zur Geisterstadt mutiert

Teile der Hauptstadt, die am Südzipfel der Nordinsel liegt, sind zur Geisterstadt mutiert. Fast täglich sind seit dem allmächtigen Zwei-Minuten-Beben am 14. November Hochhäuser wegen struktureller Schwächen evakuiert und weiträumig abgesperrt worden. Bauwerke, die auf keiner Risikoliste standen.

Ein nur eineinhalb Jahre altes Bürogebäude, in dem das nationale Statistikamt (Statistics NZ) untergebracht ist und das eigentlich den höchsten Sicherheitsstandards genügen müsste, steht sogar auf der Abrissliste, weil Decken und Böden eingestürzt sind. Ein Parkhaus wurde samt Einkaufs- und Kinozentrum abgeriegelt, weil es direkt auf den Courtenay Place, das Zentrum des Nachtlebens, fallen könnte. Ebenso das Hochhaus neben der St.-Pauls-Kathedrale in der Molesworth Street.

Peter Smith, der Präsident der Gesellschaft für Erdbeben-Technik, sagte, Hochhäuser mit acht bis fünfzehn Etagen hätten am schlechtesten abgeschnitten, „vor allem jene auf weicherem Untergrund“. Aufgrund der Beschleunigung der Erdbeben-Wellen seien niedrigere, darunter alte Gebäude, von denen man dachte, sie seien extrem gefährdet, so gut wie gar nicht beschädigt worden.

Keine "Red Zone" aus Angst vor logistischem Albtraum

So wie einst in Christchurch ganze Viertel zum Sperrgebiet, einer sogenannten „Red Zone“, zu erklären, war jedoch keine Option. „Wir mussten abwägen, ob wir das komplette Geschäftszentrum absperren oder nur punktuell eingreifen”, sagte der neue Bürgermeister Justin Lester, „aber es wäre ein logistischer Albtraum, alle Leute zu evakuieren. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, einzelne Gebäude zu räumen, sobald Ingenieure signalisieren, dass Gefahr für Leib und Leben besteht. Es besteht kein Grund zu unnötiger Sorge.“

Zivilschutz-Minister Gerry Brownlee spielt die Zustände sogar noch herunter: „Die große Mehrheit der Gebäude hat das Beben gut überstanden, deshalb sollte man den Untergang einiger weniger Gebäude nicht hochstilisieren.“

Dort, so die Überzeugung der Regierung Neuseelands, der Stadtverwaltung und auch der Einwohner, wäre das Ausmaß solch einer Naturkatastrophe längst nicht so verheerend gewesen, schließlich seien die Bauvorschriften aufgrund der akuten Erdbebengefahr in der auf fünf tektonischen Verwerfungen sitzenden Kapitale sehr viel stringenter als in Christchurch, wo niemand mit solch einem Desaster gerechnet hatte.

Deshalb kommen die Leute aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, welch enorme Schäden das zugegebenermaßen fürchterliche, aber 150 Kilometer Luftlinie entfernte Beben der Stärke 7,8 auf Moment-Magnituden-Skala (Mw) in Wellington angerichtet hat.

Dass die Gegend um das Epizentrum auf der Südinsel nahe der Touristenhochburg Kaikoura von der Außenwelt abgeschnitten und nur per Hubschrauber, Kleinflugzeug, Schiff und streng regulierten Konvois auf einer notdürftig hergerichteten Inlandsroute zugänglich ist, ist nachvollziehbar, denn hier gingen auf der Küstenstraße dutzendweise Erdrutsche nieder, Schienenstränge bogen sich und wurden aus der Verankerung gerissen, und der Meeresboden hob sich um einen bis eineinhalb Meter. Aber Wellington?

Als das Erdbeben der Stärke 6,3 am 22. Februar 2011 das Stadtzentrum von Christchurch verwüstete, viele Gebäude wie Kartenhäuser einstürzten und 185 Menschen zu Tode kamen, wackelte auch die 300 Kilometer Luftlinie entfernte Hauptstadt Wellington.

Update 25.11.2016

Abrissarbeiten beginnen

Bereits heute haben die Abrissarbeiten an drei Hochhäusern begonnen, unter anderem an dem Gebäude neben der Kathedrale.

Erwähnenswert ist auch, dass die Zentrale der neuseeländischen Finanzbehörde (IRD = Inland Revenue Department) in der Featherston Street „vorsichtshalber“ evakuiert wurde, nachdem Schäden an einer Treppe entdeckt worden waren.

Als Grund für die Evakuierung wurde angegeben, dass aufgrund der beschädigten Treppe im Falle eines weiteren starken Erdbebens kein sicherer Fluchtweg vorhanden sei.

Von der Maßnahme sind rund 3000 Mitarbeiter betroffen, die jetzt voraussichtlich 14 Tage lang von zu Hause oder anderen Zweigstellen des Finanzamts in Wellington arbeiten müssen, damit der Betrieb aufrechterhalten wird. Das Gebäude (das sogenannte Asteron Building) ist 17 Etagen hoch und mit 48.000 Quadratmetern das größte Bürogebäude in Wellington.

Insgesamt wurden rund 30 Gebäude evakuiert, darunter auch die Zentrale des neuseeländischen Nachrichtendienstes (das Äquivalent des BND/Spionagedienst) und das Hauptquartier der nationalen Armee.

In Kaikoura durften heute 80 Fahrzeuge im Konvoi nach Süden (Christchurch) fahren. Die Inlandroute ist nur einspurig befahrbar (d.h. derzeit gibt es auch nur eine von Baggern freigeschaufelte Spur).

Den Leuten wurde klargemacht, dass sie bis auf weiteres nicht nach Kaikoura zurückfahren können. Die Straße ist notdürftig hergerichtet, auch hier sind massenhaft Erdrutsche und Geröllmassen niedergegangen.

[Update 07.12. 2016 - In der Zwischenzeit kann man auf dieser Inlandsroute ab Waiau einmal am Tag im Konvoi nach Kaikoura fahren und vier Stunden später zurück - allerdings nur an Werktagen, bei gutem Wetter und nach Voranmeldung.]