07.02. Kampf um Kathedrale

Der streitbare Wizard und die "scheinheilige Hexe"

CHRISTCHURCH. Der mit welkenden Gräsern und Blumen bepflanzte Unterschlupf hat die Form einer Hütte, ist aber lediglich ein Tunnel mit Ausguck in Richtung Osten. Von den Launen der Natur geschützt, können Touristen von hier auch bei Regen tropfenfreie Fotos von diesem Bild der Verwüstung schießen: von der zertrümmerten Westfassade der Kathedrale von Christchurch und den Mauerresten des einst spitz in den Himmel ragenden Turmes.

Dort, wo sich einst die Fensterrose befand, zwischen Dachfirst und Hauptportal, klafft eine überdimensionale Lücke. Tauben fliegen aus und ein, es geht tatsächlich zu wie in einem Taubenschlag. In den sechs Jahren seit dem verheerenden Erdbeben der Stärke 6,3 (Mw) am 22. Februar 2011 haben sich die Vögel hier eingenistet. Dutzende dieser flatternden Schädlinge sitzen auf den Dachbalken, im Sekundentakt fliegt Vogeldreck nach unten. Drohnenaufnahmen haben gezeigt, dass der Boden der Kirche mit einer dicken Kotschicht verkrustet ist.

Dank der Fotos der Touristen geht das Bild vom zerstörten Wahrzeichen der zweitgrößten Stadt Neuseelands um die Welt. Die Kunde ist klar: Die 1904 fertiggestellte neugotische Kathedrale, deren Bau 40 Jahre dauerte, weil den Pionieren immer wieder das Geld ausging und der Turm zwischen 1881 und 1901 drei Mal durch Erdbeben beschädigt wurde, hat irreparablen Schaden erlitten und sollte abgerissen werden.

Abriss scheint kein Thema mehr

Die logische Frage, die folgt, ist deshalb: Wieso steht es noch immer hier im Mittelpunkt der Stadt? Die Antwort: Weil die Kathedrale durchaus repariert werden kann, die Anglikanische Diözese mit Bischöfin Victoria Matthews an der Spitze aber lieber ein neues Gotteshaus an derselben Stelle errichten lassen wollte.

Aus diesem Plan wird jedoch nichts. Es geht nur noch um die Finanzierung einer Restaurierung, obwohl der Oberste Gerichtshof nach mehreren Klagen von Abrissgegnern und Denkmalschützern den Kirchenoberen in letzter Instanz bereits im Dezember 2013 grünes Licht für einen Neubau erteilt hatte. Doch ganz offenbar bekam bekamen die Anglikaner kalte Füße.

Der Streit hat die Bevölkerung gespalten: Auf der einen Seite stehen die klassischen Neuseeländer, die alles, was praktisch, preiswert und schnell zu bewerkstelligen ist, gut finden. Ein junges Land, eine kurze Geschichte, weg mit der Ruine. Auf der anderen Seite versammelten sich geschichts- und traditionsbewusste Menschen, die die Beseitigung der Kathedrale als Vandalismus geißelten, vergleichbar mit einem Abriss des Kölner Doms wegen ein paar Kriegsschäden, zu Protestmärschen und Demonstrationen.

Stillstand zwingt die Regierung zum Einschreiten

Da der Stillstand den Wiederaufbau des Stadtkerns enorm behindert, ist die Regierung eingeschritten. Während überall neue Geschäfts- und Bürogebäude die unzähligen Lücken füllen, sind die Investoren erst bereit, rund um den Platz der Kathedrale zu bauen, wenn klar ist, was mit dem Herz der Stadt geschieht.

Da auch der Baubeginn des umstrittenen neuen Kongresszentrums in den Sternen steht und von der Städtische Bibliothek lediglich ein Aufzugschacht steht, ist die Kirche mit einem unbebauten Brachland-Ring umgeben. Das hat Christchurch den Namen „Donut City“ eingebracht, eine Stadt, die aussieht wie ein dicker Krapfen mit Loch in der Mitte.

Um das Zentrum wiederzubeleben, setzte die Regierung Ende 2015 zunächst eine Mediatorin und im Juni 2016 eine Arbeitsgruppe, der auch zwei Vertreter der Diözese angehören, zur Lösung des Konflikts ein. Bei den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen wurde der Abriss offenbar nicht einmal als Option angeboten.

Der Sprecher des Gremiums, Geoff Dangerfield, sagte, es gehe lediglich darum, die Kosten einer „Wiederinstandsetzung“ zu veranschlagen und dem Kabinett vorzulegen, und die einzige diskutierte Lösung sei „eine Mischung aus Restaurierung, Reparatur und Neubau“. Die Kirchenführer hatten die Bekanntgabe ihrer Entscheidung schon für Ende 2015 angekündigt – bloß um den angekündigten Ankündigungstermin auch ein Jahr später verstreichen zu lassen. Das war mehr als nur peinlich. Unfassbar.

Beim unwürdigen Zeitspiel geht es nur ums Geld

Bei diesem unwürdigen Zeitspiel geht es nur ums Geld. Wer zahlt wie viel? Der Kirchenvorstand behauptet, ein moderner Neubau im billigen Retro-Look würde lediglich 34 Millionen Euro kosten, eine Restaurierung jedoch 80 Millionen Euro, und die Differenz übersteige die Auszahlung der Versicherung bei weitem. Doch die Anti-Abriss-Lobby hat schon vor Jahren Philanthropen kontaktiert und behauptet, für eine Restaurierung stünden weltweit großzügige Spender förmlich Schlange. Insofern gesehen müsste den Anglikanern nach ihrer moralisch aufgezwungenen Kehrtwende vor der Finanzierung nicht bange sein.

Um zu verstehen, warum so viele Menschen für das Wahrzeichen der Stadt auf die Barrikaden gegangen sind, muss man sich lediglich einige Meter von dem Aussichtstunnel mit dem Katastrophenbild entfernen und an dem mehr als mannshohen Absperrwall entlanggehen, der die Kathedrale umgibt und den Blick versperrt.

Wer dann ein paar Schritte zurücktritt und das Bauwerk von Norden oder Süden betrachtet, sieht, dass der Dachfirst trotz Taubeninvasion noch immer schnurgerade und kaum eine Schieferplatte verrutscht ist, obwohl die Kirche das Gebäude dem Zerfall preisgegeben hatte. „Das muss man sich vorstellen, das Herz und die Seele der Stadt so zu behandeln“, wettert der Wizard, der Hexenmeister, das 84 Jahre alte menschliche Wahrzeichen von Christchurch, der vor dem Erdbeben im Februar 2011 fast täglich vor der Kathedrale auf seine Stehleiter gestiegen war und von dort über seine Philosophie der Spaß-Revolution doziert hatte.

Die Katholiken als leuchtendes Vorbild

Jedes andere erhaltenswerte Gebäude ist mit Planen versiegelt und vor Wind, Wetter und Schädlingen geschützt worden, darunter auch die Katholische Basilika, die „Cathedral of the Blessed Sacrament“. Obwohl weitaus stärker beschädigt als die Anglikanische Kathedrale, taten die Katholiken alles für ihre Rettung.

Die Bischöfin der Anglikaner rechtfertigte das Nichtstun stets mit den Worten: „Menschen sind wichtiger als Gebäude.“ Als hätte man sich zwischen der Versorgung der Menschen und der Rettung des Sakralbaus entscheiden müssen.

Doch diese regelmäßig wiederholte Aussage war lediglich der Beginn endloser PR-Fiaskos. Im Februar 2012 schaltete die Kirche eine Anzeige in der lokalen Tageszeitung The Press, mit der Kernaussage, die Kathedrale sei „ein sehr gefährliches Gebäude“. Internationale Experten bewiesen das Gegenteil. Im Februar 2013 beklagte sich die Kirchenführerin, wegen der juristischen Auseinandersetzungen müsse die Kathedrale „einen würdelosen Tod sterben“. Doch trotz der Vernachlässigung wollte und wollte der Bau nicht einstürzen.

Die Schäden an der Westfassade entstanden durch menschliches Versagen

Die großen Schäden, die die Touristen heute an der Westfassade sehen, sind durch menschliches Versagen erst nach dem Februar-Erdbeben vor sechs Jahren entstanden. Die Westfassade wurde bei der nächsten großen Erschütterung im Juni 2011 durch ein Metallgerüst eingeschlagen, das die Wand eigentlich hatte stützen sollen. Die untere, durchaus noch stabile Hälfte des eingestürzten Turms wurde im April 2012 nicht, wie versprochen, sorgfältig dekonstruiert, um die Steine in einem Neubau wiederzuverwenden, sondern mithilfe einer Abrisszange zertrümmert.

Welch ein Kontrast zum Vorgehen der Katholischen Diözese: Hier wurden der Turm und die Kuppel in liebevoller Kleinarbeit abgetragen, jeder einzelne Stein nummeriert, auf Paletten sortiert, verpackt und später in einem Lager sicher verstaut.

Dabei wissen die Katholiken noch nicht einmal, ob sie jemals das Geld aufbringen können, um ihre Basilika in voller Pracht zu rekonstruieren, denn das würde 75 Millionen Euro kosten. Derzeit ist lediglich geplant, das Kirchenschiff zu reparieren. Dafür hat der im vergangenen Jahr verstorbene Bischof Barry Jones 30 Millionen Euro zur Seite gelegt. „Ein großartiger Mann“, sagt der Wizard, „er war mein Freund.“ Seine anglikanische Bischöfin nennt er eine „scheinheilige Hexe“.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)