12.11. Maori-Möwen

Bauruine wird zum Vogelparadies mitten in der Stadt

CHRISTCHURCH. In Christchurch sind Haus- und Landbesetzer keine Seltenheit. Seit dem verheerenden Erdbeben im Februar 2011 wohnen sie in beschädigten Gebäuden, die aufgrund juristischer Auseinandersetzungen mit Versicherungsgesellschaften und zögerlich oder noch gar nicht begonnener Neubauprojekte auch acht Jahre nach der Naturkatastrophe das Stadtbild verschandeln.

Normalerweise handelt es sich bei diesen „Squattern“, so der englische Begriff, um Menschen, die sich dort illegal niederlassen, und sie sind wahrlich keine Attraktion für Einheimische und Neuseeland-Touristen – ganz im Gegensatz zu den rund 300 Maorimöwen, die sich nun schon das zweite Jahr hintereinander in den Überresten eines nur halb abgerissenen Bürogebäudes in der Armagh Street, nur zwei Blocks von der Anglikanischen Kathedrale entfernt, zu einer Brutkolonie versammelt haben.

Es ist ein faszinierender Anblick: dicht an dicht reihen sich 130 oder noch mehr aus Heu, Gras und Zweigen erbauten und mit jeweils einer Möwe besetzten Nester in schwindelnder Höhe auf dem Gerippe des ehemaligen „PWC Towers“. Der Partner steht oft neben dem Nest; auf weniger dicht besiedelten Abschnitten paaren sich jene Vögel, die sich etwas später zur Familiengründung entschlossen haben. Das einstige Tiefgeschoss hat sich mit einer grünen Brühe gefüllt, in der die Möwen mehrmals am Tag baden.

Nester in einem Gewirr von Betonpfeilern und verbogenen Stahlstäben

Mit dieser außergewöhnlichen Besetzung hat das unansehnliche Gewirr aus grauen Betonpfeilern, Querverstrebungen und verbogenen gerippten Stahlstäben wenigstens eine Daseinsberechtigung erhalten. Mehr noch: Die von hohen Wellblechwänden umgebene Halbruine, die von der Stadtverwaltung in einer Liste der Schandflecke geführt wird, die den Fortschritt und die Wiederbelebung des Stadtkerns aufhalten, erfüllt jetzt wenigstens einen guten Zweck.

Zahlreiche begeisterte Besucher, die die seltenen Vögel durch die in die blickdichte Umzäunung geschnittenen Fenster beobachten, fordern sogar, die Stadt solle dem untätigen Landbesitzer Philip Carter das Areal abkaufen und die Kolonie animieren, jedes Jahr zwischen September und Februar hier zu brüten, schließlich ist die Maorimöwe eine gefährdete Art, und das von Feinden (Katzen, Marder, Ratten, Sumpfweihen, Dominikanermöwen und Menschen) abgeschirmte Gelände bietet ideale Voraussetzungen, um sich mehrmals pro Saison ungestört zu vermehren.

Carter, ein steinreicher Investor und Bauträger, sagt zwar nicht, was er mit dem Grundstück vorhat, das als „Philip Carters Swimmingpool“ bekannt ist, und wann er seine Pläne in die Tat umzusetzen gedenkt, aber in einem Statement gegenüber der Zeitung The Press kündigte er an, er wolle das Terrain nach dem Ende der Brutzeit mit Netzen, Gittern und Vogelabwehrspitzen versehen, um die Möwen davon abzuhalten, nächstes Jahr zum Nisten zurückzukehren – inklusive der vereinzelten Rotschnabelmöwen (Larus novaehollandiae scopulinus), die sich unter die laut kreischenden Maorimöwen gemischt haben. Diese wunderschöne Art ist weitverbreitet, aggressiv und furchtlos. Es kommt immer wieder vor, dass diese Vögel im Tiefflug hungrigen Leuten die Bratwurst aus dem Brötchen klauen.

Normalerweise brüten die Tiere in den Verflochtenen Flüssen Neuseelands

Im Gegensatz zu der an der Küste brütenden Rotschnabelmöwe, die einen roten Schnabel, rote Beine und rote Augenringe hat, ist die Maorimöwe, deren Schnabel schwarz, länger und dünner ist und deren Beine schwarz bis rötlich-schwarz sind, eher ein Landvogel. Sie kommt nur in Neuseeland vor, ist also endemisch, und hier vornehmlich auf der Südinsel.

Dort brütet sie im Kies der breiten Verflochtenen Flüsse, die das Wasser aus den Südalpen abtransportieren. Hier ist sie nicht nur der Unzahl feindlich gesinnter Tiere ausgesetzt, die Eier und Küken und oft auch die erwachsenen Vögel fressen, sondern auch Menschen, die mit ihren Allradfahrzeugen durch die Verflochtenen Flüsse brettern. Zudem verändern wildwachsende Lupinen den Lauf und das Fließtempo der Gewässer, so dass sie immer weniger zum Brüten geeignet sind.

Deshalb ist es umso genialer, dass die Maorimöwen die verkommene Hochhausruine zweckentfremdet haben, denn hier droht allenfalls Gefahr aus der Luft durch die großen Dominikanermöwen (Larus dominicanus). Die Naturschutzbehörde DoC (Department of Conservation) passt auf, dass den Möwen niemand ans Gefieder geht. Auch Philip Carter darf nur passive Abwehrmaßnahmen ergreifen. Wer die streng geschützten Vögel verjagt oder ihnen anderweitig Schaden zufügt, dem drohen 60.000 Euro Geldstrafe und bis zu zwei Jahre Gefängnis.

(Copyright: Sissi Stein-Abel)