21.07. Wellington wackelt

Die wahre Hauptstadt der (gestohlenen) Erdbeben

Ein Erdbeben der Stärke 6,5 auf der Richterskala erschüttert das Zentrum Neuseelands und erinnert daran, dass eigentlich Wellington die Erdbeben-Hauptstadt der Nation ist und nicht Christchurch.

Von Sissi Stein-Abel

WELLINGTON. „The Civilian“ ist eine satirische Online-Zeitung, die menschliche Dramen und politische Possen in Neuseeland aufs Korn nimmt. Eine der letzten Schlagzeilen lautet: „Christchurch warnt Wellington davor, mit unerlaubten Erdbeben das Mitleid zu stehlen“, das der Metropole der Südinsel seit den Naturkatastrophen des Jahre 2010 und 2011 mit 185 Toten und rund 13.000 Nachbeben zustehe.

„Wellington wird als Regierungssitz vom Rest der Nation schon genug bedauert. Hände weg von unseren seismischen Aktivitäten!“, droht Christchurch. Die frei erfundene Antwort von Wellingtons Bürgermeisterin Celia Wade-Browns trifft den Nagel auf den Kopf: „Christchurch hat unsere Erdbeben-Krone gestohlen. Wir holen uns nur zurück, was uns zusteht.“

Und das mit Macht: Am Freitag wurden die Bewohner der Hauptstadt von einem Rüttler der Stärke 5,7 auf der Richterskala geweckt und heute Morgen um 7.17 Uhr gar von einem 5,8-Rumpler.

Mehr als 30 Erschütterungen meldete das Nationale Institut für Geologie- und Nuklearwissenschaften (GNS) über das Informationsnetzwerk GeoNet allein am Sonntagvormittag, darunter eines der Stärke 5,1. Und es sei kein Ende in Sicht, sagte Seismologin Dr. Anna Kaiser. „Diese Beben erinnern daran, dass Wellington eine seismologisch aktive Region ist und man jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen muss.“

Wie wahr. Um 17.09 Uhr Ortszeit wackelten Türen und Fenster, klirrten Geschirr und Gläser drunten in Christchurch, 280 Kilometer weiter südlich, und selbst 450 Kilometer nördlich in Te Awamutu waren die vibrierenden Wellen zu spüren.

In Wellington gingen kurzzeitig viele Lichter aus, Gebäude wurden evakuiert, der Zug- und Flugverkehr vorübergehend eingestellt, um Gleise und Rollbahnen zu kontrollieren. In Hochhäusern barsten Fensterscheiben, Putz fiel von den Wänden, unter anderem in der historischen Bibliothek des Parlaments. Betonbrocken krachten auf geparkte Autos.

Im Studio des nationalen Fernsehsenders TVNZ flüchteten die Redakteure unter ihre Schreibtische. Container fielen von der Werft in den Hafen, die Fähren, die zwischen der Nord- und Südinsel verkehren, legten nicht an. Angst und Schrecken machten sich im Zentrum der Nation breit.

Epizentrum in der Cook Strait östlich von Seddon

Auslöser war ein massives Beben der Stärke 6,5, dessen Epizentrum wie schon bei den vorangegangenen Erschütterungen seit Freitag rund 20 Kilometer vor der Nordostküste der Südinsel Neuseelands auf Höhe der Ortschaft Seddon lag.

Die Tiefe variierte zwischen 17 Kilometern beim stärksten Rumpler bis zu lediglich fünf Kilometern bei einem 5,5 starken Nachbeben vier Minuten später. Wellington, das mit nur einer Ausfallstraße zwischen den vielen Hügeln denkbar schlecht zu versorgen wäre, ist nur 70 Kilometer Luftlinie von Seddon entfernt, die Epizentren lagen entsprechend näher.

Die berühmtesten Einwohner dieser verschlafenen Gegend – dem Awatere Valley in der Region Marlborough - sind der Winzer Peter Yealands, der die größte Einzellage Australasiens bewirtschaftet, und seine kleinen Baby-Doll-Schafe, die zwischen den Weinreben grasen.

Von Yealands Weinbergen auf den Klippen von Seaview kann man an klaren Tagen auf der anderen Seite der Cook Strait, am Südzipfel der Nordinsel, die Konturen der Hauptstadt erspähen. „Aus einigen Tanks ist Wein herausgeschwappt“, erzählte der Winzer. In Supermärkten fiel Ware von den Regalen, in der nahe gelegenen Weinstadt Blenheim segelten Bilder von den Wänden.

Die Wellingtonians sind einiges gewöhnt, und ehe das Erdbeben am 22. Februar 2011 das Zentrum von Christchurch in Schutt und Asche legte, war Wellington nicht nur die politische, sondern auch die seismologische Hauptstadt der Nation. Das Verwaltungszentrum liegt auf fünf geologischen Verwerfungslinien. Die stärkste in dieser Gegend gemessene Erschütterung war das sogenannte Wairarapa-Beben mit 8,1 bis 8,3 im Jahr 1855.

Die derzeitigen starken Beben liegen nahe der Subduktionszone zweier tektonischer Platten, deren Aktivität die Landmasse Neuseelands vor 25 Millionen Jahren an die Oberfläche beförderte und in zwei Teile zerbrach, weil der Süden stieg und der Norden sank. Unter der Nordinsel hat sich die schwerere Pazifische Platte unter die leichtere Australasische Platte geschoben. Im Süden der Südinsel ist’s genau umgekehrt. Dazwischen reiben die Platten aneinander und kreieren gewaltige Rotationskräfte.

Wie die jüngste Erdbeben-Serie zu beurteilen ist, bleibt offen. Oft gehen solche Schwärme einem schweren Beben voraus. Die Frage ist, ob der 6,5-Rüttler das große Beben war oder noch Schlimmeres folgt. Das fände dann nicht einmal mehr „The Civilian“ lustig.