19.01. Auto-Inventur
Über Schandflecke und Schrammen à la Kiwi
CHRISTCHURCH. Ein neues Jahr, Zeit für eine Inventur. Bei dieser Erfassung der Vermögenswerte und Schulden geht es weniger um das Vorhandensein oder Fehlen von Gegenständen, als um schuldhafte Handlungen, die zum konstanten Sinken eines Vermögenswertes führen, nämlich des Autos der Autorin.
Dies steht in direktem Zusammenhang mit der Fahrkunst der Neuseeländer, die so fahren, wie Leute eben fahren, die es von Mutti, Vati, Oma, Opa, Tante oder Onkel auf dem Beifahrersitz gelernt haben und nicht etwa von einem Fahrlehrer. Sofern sie den Prüfer nicht zu Tode chauffieren, bekommen alle einen Führerschein, weil die Regierung nicht auf öffentliche Verkehrsmittel setzt, sondern auf Pkws und den Straßenbau als Wirtschaftsfaktor.
Es gibt sogar politische Diskussionen darüber, ob Autofahren nicht an den Schulen gelehrt werden sollte, damit Jugendliche nicht das Gesetz brechen, weil sie ohne Führerschein durch die Gegend kurven. Freiwillige Helfer sollen den praktischen Teil des Unterrichts übernehmen. So viel zum Hintergrund.
Im Vordergrund soll nun die Zählung der Schrammen an Fahrer- und Beifahrerseite des Autorinnenautos stehen, von denen keine einzige selbstverschuldet ist. Letzteres trifft auch auf das deformierte vordere Nummernschild zu, das ein rücksichtsloser Rückwärtsfahrer mit seiner Anhängerkupplung verbogen hat.
Niemand stört sich an der Sachbeschädigung
Die Macken an den Seiten reihen sich wie Perlen auf einer Schnur auf Höhe der Zierleiste, die zu einer Ansammlung von Schandflecken mutiert ist. Vorbei die Zeiten der guten alten Gummileisten, die echten Kantenschutz boten und genau solche hässlichen Kerben verhinderten. Heutzutage ist die Schwelle an den meisten Autos in der Wagenfarbe lackiert und ermöglicht deshalb die exakte Ermittlung der Zwischenfälle, bei denen gegnerische Autofahrer ihre Türen allzu schwungvoll aufgerissen haben und sich an der Sachbeschädigung nicht störten.
Beifahrerseite: 29 Lackschäden auf der Beifahrertür, fünf weitere an der Hintertür. Fahrerseite: eine Schramme. Wie kommt diese enorme Diskrepanz zustande? Nein, nicht etwa, weil jedes Auto einen Fahrer, aber nicht zwingend einen Beifahrer hat, der beim Nebeneinanderparken auf Supermarktparkplätzen die Tür nebenan malträtieren könnte. Es ist einem wahnsinnigen Radler zu verdanken, der vor einem Jahr bei Rot über eine sechsspurige Innenstadtstraße rauschte und mit voller Wucht in die von ungefähr 23 Parkplatzschrammen verunzierte Fahrerseite krachte.
Dabei demolierte er den Wagen von vorne bis hinten. Die Versicherung zahlte das Ausbeulen und die Neulackierung, minus 200 Euro Eigenanteil, weil der Radler nach der Kollision noch aufstehen, gehen und die Flucht durch eine Einbahnstraße ergreifen konnte.
Auto- und Radfahrer brettern bei Rot über Kreuzungen
Radfahrer brettern zumindest in Christchurch genauso oft bei Rot über eine Kreuzung wie Autos, weil die Polizei dieses Vergehen nicht mithilfe von fest installierten Kameras bekämpft. Wer es bei Gelb gerade noch über eine Kreuzung schafft, stellt beim Blick in den Rückspiegel mit Erstaunen fest, dass es dahinter auch noch ein, zwei weitere Autos riskieren.
Mit strategischem Parkverhalten ist es gelungen, die auf Hochglanz polierte Fahrerseite elf Monate lang mackenfrei zu erhalten: parallel zum Straßenrand parken und ein paar Schritte weiter gehen oder aber immer am rechten Ende von Parkplatzreihen parken (in Neuseeland ist die Fahrerseite aufgrund des Linksverkehrs rechts), so dass es lediglich einen Parknachbar zur Linken gibt, der allenfalls der Beifahrerseite eine neue Wunde zufügen kann.
Tunlichst zu vermeiden sind auch Supermärkte in ärmeren Stadtvierteln, weil sich die Leute dort keine neuen Autos leisten können und es sie nicht stört, ob ihre Rostlauben eine Delle mehr oder weniger haben. Auch sind die Familien dort kinderreicher, so dass meistens sämtliche Türen aufgerissen werden und nicht bloß eine.
Ein Blick in die Tagespresse zeigt weitere interessante Fakten, die in Zusammenhang mit dem Straßen- und Parkplatzverkehr stehen: Immer mehr Neuseeländer geben zu, dass sie miserable Autofahrer sind. Und das nicht bloß, weil sie erst blinken, wenn sie schon halb abgebogen sind, und nicht wissen, dass man beim Abbiegen über die Gegenfahrbahn in die Straßenmitte vorfährt und nicht 50 Meter weiter hinten an der Ampel stehen bleibt. Die Zahl der selbstkritischen Kiwis liegt zwar noch immer unter fünf Prozent, aber es ist ein Anfang.
(Copyright: Sissi Stein-Abel)