01.02. Protestbewegung

Kampf für Demokratie und gegen den Bürgermeister

Von Sissi Stein-Abel

CHRISTCHURCH. Gavin Britts ist gestern nicht zum ersten Mal auf die Straße gegangen. „Ich habe auch gegen die Springboks-Tour demonstriert“, erzählt der Rentner aus Pigeon Bay, einer idyllischen Bucht auf der Banks-Halbinsel bei Christchurch. Damals war halb Neuseeland auf den Beinen, um gegen den Besuch der Cricket-Nationalmannschaft – der Springboks – aus Südafrika zu protestieren. Es war Südafrika zu Zeiten der Apartheid. Die Tour war 1981.

Und Gavin Britts ist noch einer der Streitbaren, die schon mal in eine Amtsstube marschieren, um ihrem Unmut Luft zu machen. „Neuseeländer sind lethargisch und lassen sich viel zu viel gefallen“, sagt der betagte Richard.

Die Ausnahme sind die Maori, die vor rund 1000 Jahren als erste Einwanderer Aotearoa - das Land der langen, weißen Wolke – besiedelten. Sie marschieren, wenn ihnen irgendetwas nicht passt, zum Parlament in Wellington. Das ist dann ein Hikoi.

Fotos in der passenden Breite, falls Google Sites jemals wieder problemlos funktioniert (es funktioniert nicht mal mit Google Chrome als Browser - und die Seitenleiste sieht mit Google Chrome grauenhaft aus, wie Kraut und Rüben).

Vermutlich haben sie wieder mal ein Upgrade vorgenommen, das alles verhäckselt, was bislang gut war. Die Fotos in dieser Spalte haben in meinem Foto-Ordner dieselbe Breite - wie man hier leider nicht sieht...

In Christchurch leben nicht viele Maori. Es muss also viel passieren, um die Leute aus der Reserve zu locken und den Rücktritt von Bürgermeister Bob Parker und den Rauswurf von Verwaltungschef Tony Marryatt zu fordern. Rund 3000 Menschen zogen gestern um die Mittagszeit auf eine Freifläche neben dem Rathaus, auf der bis vor den vier fürchterlichen Erdbeben seit 4. September 2010 ein pfirsichfarbenes Appartementhaus gestanden hatte.

Sie waren bewaffnet mit Transparenten und beschrifteten Pappendeckeln, auf denen sie in Reim und Prosa vorgezogene Neuwahlen des zerstrittenen Stadtrats und die Rückkehr der Demokratie in ihre geschundene Stadt verlangten. „Wir haben die Nase voll und fordern von Premierminister John Key und der Regierung, uns zu helfen“, sagt Peter Lynch, der Organisator der Demonstration.

Mike Coleman, ein presbyterianischer Priester und grandioser Redner, führt das Wort. „Sie werden nichts tun, aber wir werden so lange protestieren, bis wir unser Ziel erreicht haben“, kündigt er an. Christchurch auf den Beinen, so wie einst Leipzig und Stuttgart bei den Montagsdemonstrationen.

Er ruft den Menschen noch einmal in Erinnerung, warum sie heute hier sind: Weil Parker und Marryatt mit ihrer „Bob & Tony Show“ die größte Stadt der Südinsel Neuseelands nach Gutsherren-Art regieren, Hinterzimmer-Deals schließen, den gewählten Stadtrat in eine informierte A-Gruppe – Parkers Gefolgsleute – und eine ständig überrumpelte B-Gruppe geteilt hat, die es wagt, die Interessen der in den vergangenen 17 Monaten von vier katastrophalen und rund 10.000 schweren bis kaum spürbaren Erdbeben ausgebrannten Bürger zu vertreten.

All das hätten die Cantabrians in typischer Kiwi-Manier – „Was kann man schon dagegen tun?“ – vielleicht noch geschluckt, schließlich verbocken die Regierungsbehörden EQC und CERA mehr als ein Mensch vertragen kann, dessen Haus eingestürzt, abgerissen oder beschädigt worden ist.

Die Stadtverwaltung ist nicht an allem schuld. Aber sie hat einige äußerst fragwürdige Entscheidungen getroffen. So müssen Leute für ihre unbewohnbaren, leer stehenden Häuser Gebühren für Müllabfuhr und Abwasser zahlen. Ja, selbst für Häuser, die längst abgerissen worden sind! Und der Wiederaufbau stockt, weil, so Mike Coleman, „von 1200 Angestellten im Rathaus nur drei Leute Baugenehmigungen abzeichnen können, und einer ist im Urlaub“.

Das Fass zum Überlaufen brachte eine vor Weihnachten ganz beiläufig bekannt gegebene Gehaltserhöhung für Marryatt. Sieben der zwölf Stadträte und der Bürgermeister hatten dafür gestimmt, dem seit 2007 amtierenden Verwaltungschef rückwirkend ab Juli vierzehn Prozent mehr zu zahlen und seine jährlichen Bezüge um 68.000 auf 538.529 NZ-Dollar zu verbessern.

Neuseeländer sind nicht die geborenen Demonstranten. Es muss schon einiges passieren, bis sie auf die Straße gehen.

Als Christchurch am 23. Dezember ein weiteres Beben der Stärke 6,0 erlebte, urlaubte Marryatt an der Goldküste in Australien. Als er im Januar an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, lümmelte er beim Interview mit der Lokalzeitung The Press in Shorts und Flip-Flops in einem Sessel und sagte, er sei das Geld wert, weil er im vergangenen Jahr so hart gearbeitet habe „wie nie zuvor in meinem Leben“. Neun Wochenenden hintereinander habe er keinen freien Tag gehabt. (The Press recherchierte, dass er an diesen arbeitsamen Wochenenden zweimal Golf spielte...)

Wer hat das nicht, sagen die Menschen in Christchurch, und wer hat dafür 14 Prozent Gehaltserhöhung bekommen? All die Rettungskräfte, Bau- und Straßenarbeiter, Handwerker und Freiwillige, die nach den Erdbeben Tag und Nacht arbeiteten, um Stadt und ihre Bürger wieder auf die Beine zu bringen.

Die Demo-Organisatoren: Peter Lynch (rechts) und Mike Coleman.

Der Feuerwehrmann Kelvin Hampton erzählt, wie er und seine Kollegen durch die Trümmer eingestürzter Gebäude krochen, um Menschen zu retten. „Wir haben unser Leben riskiert. Mein Gehalt wurde seit mehr als einem Jahr nicht erhöht und die letzte Erhöhung war niedriger als die Inflationsrate“, erzählt er unter tosendem Applaus. „Parker und Marryatt haben den Bezug zur Realität völlig verloren“, sagt Coleman. „Sie sind an Arroganz und Ignoranz nicht zu überbieten.“

Um die Demonstration gegen Marryatts exzessive Bezüge in Zeiten der Not zu verhindern, verzichtete der Verwaltungchef, den die Leute verächtlich nur noch „Stadtschreiber“ (town clerk) nennen, nach einem Gespräch mit dem für Städte und Gemeinden zuständigen Minister vor wenigen Tagen „freiwillig“ auf den Bonus.

Auch der Wizard polterte gegen den Bürgermeister und den Verwaltungschef.

Der Protest war jedoch nicht mehr aufzuhalten, und es geht ja auch um weitaus mehr: um Demokratie und Transparenz, die seit Bob Parkers Amtsantritt 2007 schwer gelitten haben.

Die Menschen, die ihrem Ärger Luft machen, sind keine Berufsprotestierer und Heimatlose, wie so oft in diesem Land, wenn ein paar Dutzend Leute demonstrieren, sondern gut gekleidete Mittelständler, Geschäftsleute und viele Rentner, die noch nie in ihrem Leben auf die Straße gegangen sind.

Die nächste Episode in dieser endlosen Saga der Verfehlungen wird jedoch bereits geschrieben. Die Regierung in Wellington hat einen „Beobachter“ nach Christchurch geschickt und den selbstherrliche Bürgermeister gewarnt, sie werde den Stadtrat durch einen Regierungskommissar ersetzen, sollten sich die zerstrittenen Fraktionen nicht zusammenraufen.

Und was macht Bob Parker? Er verabschiedet sich am kommenden Dienstag zusammen mit seiner exzentrischen Frau für zwei Wochen auf eine von der Flughafen-Gesellschaft bezahlten Bakschisch-Reise nach Asien, um für Christchurch und die Region Canterbury zu werben. „Die Regierung hat ihm ein Ultimatum gestellt und Bob lacht sie aus“, sagt Mike Coleman.

Ironie des Schicksals: Ohne Erdbeben wäre Parker längst weg vom Fenster. Nur weil er Christchurch nach dem ersten Beben im September 2010 so glänzend repräsentierte, wie in seinen besten Zeiten als Moderator der TV-Serie „Das ist Ihr Leben“, gewann er die längst verloren geglaubte Bürgermeisterwahl. Das haben die Leute jetzt davon.

Ein Affenzirkus...

Die Mehrheit der Leute in Christchurch hat die Nase voll.

Aber den Bürgermeister haben sie selbst (wieder-)gewählt. Wider besseres Wissen.