21.06. Tierisches Vergnügen
Die Winterspiele der Seebärenkinder im Wald
KAIKOURA. Ein klirrend kalter Tag im Wald. Mit ihrem hellen, melodiösen Gesang verwandeln die Maori-Glockenhonigfresser (Bellbirds) den dunklen Tann in eine Vogelkonzerthalle. Graufächerschwänze kommentieren ihre Insektensuche mit ausdauerndem „Piep-piep-piep“-Gezwitscher.
Der Bach am Rande des Wegs plätschert leise vor sich hin, aber mit jedem Meter wird das Geräusch lauter, denn am Ende des Pfads prasselt ein Wasserfall in ein rundes Naturbecken. Darin tummeln sich vor den Augen freudig erregter Einheimischer und perplexer Touristen hundert, vielleicht noch mehr, junge Seebären. Seebären, nicht Braunbären, die man eher mitten in einem Wald, mehr als einen Kilometer von der Küste entfernt, vermuten könnte.
Doch in Neuseeland gibt’s keine Bären, dafür umso mehr Seebären mit hellbraunem bis silbrig glänzenden Fell (wenn die Haarspitzen weiß sind). Und nördlich von Kaikoura, das für seine Walbeobachtungs-touren und Schwimmstunden mit Delfinen berühmt ist, werden sie von Ende April bis Mitte Oktober – Winter am anderen Ende der Welt - zu Landratten. Durch den Ohau Stream – das ist der Bach am Wegesrand – schwimmen und robben sie zum Wasserfall.
Dort tauchen sie am liebsten ganz nah an der Stelle, an der das Wasser in ihr Naturschwimmbad donnert. Sie schießen aus der Tiefe durch die Luft wie Delfine, plantschen in den seichteren Regionen wie Kleinkinder in der Wanne, hocken auf Felsbrocken und widmen sich der Flossenpflege.
Sie tragen Schaukämpfe miteinander aus wie Griechisch-römisch-Ringer, erklimmen Felswände wie Extrem-Alpinisten, aber ohne Seile und Steigeisen, erforschen Höhlen weiter droben in dem steilen Terrain. Es sind die Winterspiele der unerschrockenen Seebärenkinder, die noch neugieriger sind als ihre zweibeinigen Besucher, die um die robbenden Reisegruppen auf dem Weg durch den Wald Slalom laufen müssen. Wer in die Hocke geht, um die Wonneproppen zu fotografieren, muss sich nicht wundern, wenn er plötzlich von fünf, sechs kleinen Seebären umringt ist, die ihn mit ihren wimpernlosen riesigen Augen treuherzig anstarren und mit den spitzigen Nasen an Schuhen, Hosenbeinen und Knien schnuppern.
Goldiger, putziger, niedlicher, entzückender geht’s kaum. „Sie sind sehr gesellige Tiere“, sagt Phil Bradfield, der seit 25 Jahren für die Naturschutzbehörde DOC (Department of Conservation) arbeitet und das Verhalten dieser Unterart der Ohrenrobben studiert. Und das bezieht sich offenbar nicht nur auf ihresgleichen.
Sie finden alles interessant, was neu ist. Die Höhle hoch über dem Plantschbecken. Das grüne Laub der Buche im Unterholz, die verdorrten Blätter der Baumfarne am Boden. Die Stromschnellen im Bach, durch die sie sich gegen die Strömung hochkämpfen, um sich dann kopfüber hineinzustürzen und ein Stück talabwärts spülen zu lassen. „Die Jungen lernen hier zu schwimmen und zu tauchen“, sagt der DOC-Ranger. „Sie entwickeln ihr Sozialverhalten, trainieren ihre Muskeln, Kraft und Koordination, um später im Meer erfolgreich nach Beute zu jagen. Dieser Platz ist einzigartig in Neuseeland.“
Der Seebären-Nachwuchs wird im November und Dezember in der Robbenkolonie am Ohau Point, an der felsigen Ostküste der Südinsel Neuseelands, geboren. Dort bleiben sie, bis sie drei, vier Monate alt sind. „Danach werden sie abenteuerlustig und erforschen ihre Umwelt“, erzählt Phil Bradfield. „Das ist so ähnlich wie bei Teenagern bei uns Menschen.“
Bei einem dieser Ausflüge entdeckten die ersten Jungen vor rund zehn Jahren den Ohau Stream und den Wasserfall im Landesinneren. Dort sind im Juni und Juli bis zu 200 Jungtiere anzutreffen.
Auf Wanderschaft gehen sie, sobald sich ihre Mütter – die in Harems von bis zu 80 Kühen mit einem dominanten Bullen leben - für drei, vier Tage zur Futtersuche im Meer verabschieden. In diesem Rhythmus kehrt auch ihr Junges, schwimmend und unglaublich schnell auf seinen kräftigen Vorderflossen robbend, zur Küste zurück, um die nahrhafte Muttermilch zu trinken. Danach geht’s wieder zum Spielen. Rund zehn Monate lang werden die kleinen Seebären gesäugt.
Die Kolonie am Ohau Point war viele Jahre lang lediglich ein Ruhe- und Futtergebiet für Seebären. Erst 1991, als das erste Junge geboren wurde, entwickelte sich die Brutkolonie, in der sich die Tiere seither sprunghaft vermehrt haben. „Bei einer Zählung vor achtzehn Monaten haben wir 2500 Junge gezählt, ein Jahr zuvor waren’s lediglich 1600“, erzählt Bradfield. „Das zeigt in etwa die Entwicklung.“
Zwischen 70.000 und 100.000 Seebären (Arctocephalus fosteri) leben in den Gewässern rund um die Südinsel Neuseelands. Vor der Besiedlung durch Maori und Europäer, die diese Tiere nahezu ausrotteten, waren es zwei Millionen.
Nirgendwo fühlen sich die Ohrenrobben so wohl wie vor der Küste Kaikouras, weil hier das Land steil abfällt und eine kalte Strömung aus der Antarktis sowie eine sehr warme Strömung aus den Tropen aufeinandertreffen. Das bietet unerschöpfliche Nahrungsgründe für Seebären, Pottwale, Delfine, Albatrosse, Tölpel, Sturmvögel und –taucher. Die Seebären ernähren sich hauptsächlich von Laternenfischen sowie Tintenfisch und Krebstieren.
Außerdem bietet die zerklüftete steinige Küste mit ihren Schlupfwinkeln und Spalten idealen Schutz bei stürmischer See, und in den Felspools können sich die Säuger abkühlen, wenn die Sonne brennt. Der Kindergarten fernab der Küste ist jedoch das Tüpfelchen auf dem i. Für Mensch und Tier.